Vom Teilen nach dem Sommer – Almabtrieb im Berner Oberland

Festlich geschmückte Kühe beim Alpabzug aus dem Justistal im Berner Oberland. Foto: Christoph Schumann, 2019/20
Festlich geschmückte Kühe beim Alpabzug aus dem Justistal im Berner Oberland. Foto: Christoph Schumann, 2019/20

Von Christoph Schumann

 

REPORTAGE Interlaken. Auch der längste Sommer geht im Justistal einmal zuende. Für die Bauern auf den neun Alpen von Sigriswill im Berner Oberland unweit von Interlaken ist das die Zeit des Alpabzugs. Hunderte Kühe werden jedes Jahr Ende September traditionell von den grünen Wiesen hinunter in die Winterställe des kleinen Orts getrieben – behängt mit Glocken und festlichem Blumenschmuck. Zuvor aber wird das verteilt, was im Sommer erwirtschaftet wurde: der Käse aus Alpmilch, der zwischen Ende Mai und Herbst auf den Berghöfen meist nach alten Familienrezepten in echter Handarbeit entsteht. Chästeilet heißt der Brauch auf Schweizerdeutsch, also Käseteilen. Tausende Gäste aus Nah und Fern machen den großen Tag zu einem der schönsten Volksfeste seiner Art in der ganzen Eidgenossenschaft, das mit Gesang, Musik und natürlich reichlich Kostproben jungen und alten Käses gefeiert wird.

Bevor es ans Aufteilen geht, werden die in der Regel zehn oder fünfzehn Kilogramm schweren Käselaibe aus den Käsespeichern, den Spychern, herausgeholt. Von Hand zu Hand gehen die goldgelben Scheiben, ehe sie in möglichst gleichen Stapeln auf breiten Holzbrettern unter den Augen hunderter Neugieriger sorgfältig geschichtet werden. Zu den Helfern gehören neben den Bauern selbst auch all diejenigen, die ein Berg- oder Seyrecht haben – denn im Justishal kann man eine der rund 250 Alpkühe nicht nur besitzen, sondern auch pachten. Allerdings hat das Seyrecht nicht nur schöne Seiten: Jeder Pächter erhält nämlich nicht nur den Milch- und Käseertrag ›seiner‹ Kuh, er oder sie ist auch verpflichtet, Sennerin oder Senner in den Sommermonaten mit einer vereinbarten Anzahl an Tagwerken, den Gmiwärch, zu helfen.

Beim Chästeilet aber geht es endlich ans Käseteilen. Sieben der neun Alpen teilen gleich vor ihren Käsespeichern unterhalb der Alp Spycherberg. Die Alpgenossenschaft Spycherberg und die Alp Grön immer vor ihren eigenen Hütten. Schon den Sommer über wurde der Milchertrag pro Kuh beziehungsweise Bergrecht genau notiert und jeder Anteil daran berechnet.

 

Nun aber geht es ans Käseteilen. Dieses erfolgt nach Säumen, der Maßeinheit für die Milch, die die Kuh im Tal gegeben hat. „Ein Saum sind etwa zweihundert Liter Milch“, weiß Martin Siggenthaler. Der Bauer hat selbst zwanzig Kühe auf der Alp. Daraus werden rund zwanzig Kilo Alpkäse. Je vier Säume wiederum sind ein Los – oder anders gesagt: ein Käsestapel von fünf bis acht Laiben, wie sie vor den Speichern mit möglichst gleichem Gewicht aufgeschichtet sind. Weil aber keine Kuh exakt die passende Menge Milch gibt, wird überzähliger Käse zum Schluss zwischen zwei oder drei Bauern ausgehandelt. Dabei gilt historisch die Regel, dass kein Käse zerschnitten werden darf. Und ausgezahlt werden muss gleich vor Ort.

 

So fröhlich das Chästeilet gefeiert wird, so wehmütig sind viele Bauern und besonders Sennerinnen und Senner auch, die nun nach vier Monaten fern von Stadt und Zivilisation zurück in den Alltag müssen. Zu diesen gehört in diesem Jahr auch Tade Petersen. Eher zufällig ist der junge Landwirt aus Achtrup bei Niebüll auf die Flüelauihütte im Justistal gekommen. Doch der Abschied von den fünfundzwanzig Kühen, der Alp und der grandiosen Natur der Berge fällt dem 23-Jährigen nicht leicht: „Andererseits habe ich seit Ende Mai nie frei gehabt, denn gemolken und Käse gemacht werden muss Tag für Tag. Und das hieß immer, um halb sechs Uhr aufzustehen und nicht selten bis Mitternacht zu arbeiten.“ Es ist aber nicht nur Grund für Wehmut, denn auf das Wiedersehen mit Freunden und Familie freut sich der Nachwuchsbauer doch.

Weitere Informationen

Weitere traditionelle Veranstaltungen im Herbst sind die Herbstviehschau in Anger am 19. Oktober, bei der Bauern aus der Region ihre Kühe präsentieren. Experten beurteilen die Tiere und küren die schöne Kuh. Höhepunkt ist die sogenannte Züglete mit bunt geschmückten Kühen. Rund um die Tierschau findet ein Volksfest statt.

Von Mitte November bis Ende Dezember bestimmen die Weihnachtmärkte im Berner Oberland das Bild, auf denen Besucher handgefertigte Geschenke, kulinarische Genüsse, Musik und mehr erwarten.

 

Der Alpabzug 2020 im Justistal, der Chästeilet, findet am 18. September statt.

 

www.interlakentourism.ch

www.myswitzerland.com/de-de/