„Die Idee lebt, wo Bedarf ist“ – zu Besuch bei Genossenschaften in Schleswig-Holstien

Historische Reklame für die Konsum-Genossenschaft – gesehen im Hamburger Genossenschaftsmuseum. Foto: Christoph Schumann, 2025
Historische Reklame für die Konsum-Genossenschaft – gesehen im Hamburger Genossenschaftsmuseum. Foto: Christoph Schumann, 2025

REPORTAGE von Christoph Schumann

 

Alveslohe, Föhr (cs). Plötzlich war der Laden geschlossen. Seit rund fünfundvierzig Jahren lebt Regina Deilke in Alveslohe, aber ein Lebensmittelgeschäft habe es in dem ländlich geprägten Ort immer gegeben. „Und dann war 2017 einfach Schluss“, erinnert sich die 67-Jährige. Und zum ersten Mal waren die knapp 2900 Einwohner des nahe Henstedt-Ulzburg gelegenen Städtchens gezwungen, alle Einkäufe auswärts zu erledigen. „Nur ein Bäckereiwagen und der Hähnchengrill schauten einmal in der Woche noch vorbei“, sagt Deilke über die langen Monate ohne Nahversorgung. Dass es so nicht bleiben konnte, war den Alveslohern schnell klar. „Zumal wir rasch mehrere Zielgruppen ausmachten“, so Deilke. „Zum einen ältere Menschen, die nicht mehr so mobil sind. Genauso fehlte aber auch ein Angebot für Familien, Kinder und Schüler.“ Offen war lange nur die Frage, was die Versorgungslücke schließen könnte – und wie man dies angehen könnte.

Dass jetzt eigenes Engagement gefragt war, war der Mehrheit der Alvesloher schnell klar. „Und dann haben wir überlegt und beraten lassen und es kristallsierte sich heraus: am meisten Sinn macht eine Genossenschaft“, sagt Regina Deilke, die im Ort auch politisch aktiv ist. „Denn wenn wir etwas gemeinsam machen und einen Laden als Genossenschaft ins Leben rufen, ist der Rückhalt am größten.“ Bereits im April 2018 fanden sich rund einhundertfünfzig Mitstreiter zusammen und gründeten die Bürger-Genossenschaft Dorfladen Alveslohe eG, wie ihr eigenes Geschäft in schönstem Juristendeutsch heißt. Mit eigenem Stammkapital waren sie nun selbst an ihrem Projekt auch finanziell beteiligt.

 

Nur Monate zwischen Idee und Ladenöffnung

Fehlten noch Ladenlokal und ein Lieferant. „Denn uns war bewusst, dass wir Einkauf, Warenlogistik, Preisgestaltung und Lieferanten nicht alleine stemmen können“, so Deilke. Einig wurde man sich mit der Rewe-Tochter Nahkauf, die auf kleinere Partner mit Läden bis etwa 200 Quadratmeter spezialisiert ist – der Dorfladen ist nur minimal größer. So erkennt man denn den Dorfladen in Alveslohe heute nicht nur am eigenen Namen, sondern auch am bekannten Nahkauf-Logo. Und das jetzt im November schon seit sechs Jahren: Zwischen der Idee eines Genossenschaftsladens und der Eröffnung lagen nämlich nur wenige Monate. Nachdem ein leerstehendes Geschäftsgebäude in passender Größe gefunden war, begann für rund dreißig Helfer eine intensive Renovierungsphase. „Diese Aktivitäten haben uns richtig zusammengeschweißt und Spaß gemacht“, so die anfängliche Leiterin des Dorfladens. Dass sich der Einsatz gelohnt hat, lässt sich heute Tag für Tag erleben – denn den Brötchenverkauf am Sonntag mitgezählt, ist der Alversloher Dorfladen immer für die Dorfbewohner da.

Nur für Mitglieder: Ladenschild im Hamburger Genossenschaftsmuseum. Foto: Christoph Schumann, 2025
Nur für Mitglieder: Ladenschild im Hamburger Genossenschaftsmuseum. Foto: Christoph Schumann, 2025

Die kaufen nicht nur zu vergleichbaren Preisen ein wie in anderen Supermärkten, sondern finden inzwischen auch im angeschlossenen Café einen Treffpunkt für alle, der im Dorf lange fehlte, so Deilke: „Seit unser Laden geöffnet wurde, ist wieder Leben in Alveslohe.“ Und die heute im Vorstand des Bürger-Genossenschaft Aktive staunt noch immer: „Ich habe tatsächlich noch nie so viele Leute kennengelernt wie in dieser Zeit.“ Dass Alveslohes Dorfladen ein Erfolg ist, belegt auch die wachsende Zahl der Genossen – inzwischen sind es rund zweihundert. Auch der Umsatz liegt mit mehr als einer Million Euro doppelt so hoch wie einst kalkuliert. Und statt vier Festangestellten arbeiten zurzeit gut fünfzehn Mitarbeiter im Laden. Sogar Auszubildende zum Einzelhandelskaufmann gibt es. Gibt es ein Geheimnis der Genossenschaftsidee? „Wir sind anders als Aldi, Lidl und Co.“, bringt Regina Deilke die Triebkraft hinter der Gemeinschaftsinitiative in Alveslohe auf den Punkt. „Darum bin ich sicher, dass unser Dorfladen auch in zehn, zwanzig Jahren noch existiert.“

 

„Gute Waren zu einem fairen Preis“

Dass die genossenschaftliche Idee, Lebensmittel und Waren gemeinsam einzukaufen und an beteiligte Genossinnen und Genossen preiswert(er) zu verkaufen, nicht neu ist, können Besucher im Hamburger Genossenschaftsmuseum erfahren. Seit zehn Jahren entführt das ungewöhnliche Museum im Gewerkschaftshaus unweit des Hauptbahnhofs Neugierige in fast 200 Jahre Genossenschaftsgeschichte. Rund um den alten „Konsum“-Kaufmannsladen finden sich tausende Produkte, alte Protokollbücher, Reklameschilder und vieles mehr zum Sammlungs-Schwerpunkt Konsumgenossenschaften. „Hamburg war um 1900 die Stadt der Gemeinwirtschaft“, sagt Mathias Fiedler, vom Vorstand der Heinrich-Kaufmann-Stiftung, in deren Händen das Haus liegt. „1850 wurde in Eilenburg bei Leipzig von Arbeitern und Handwerkern die älteste deutsche Konsumgenossenschaft gegründet“, sagt Fiedler. Schon damals war ihr Ziel, „gute, unverfälschte Waren zu einem fairen Preis“ anbieten zu können.

 

Durchbruch als "Konsum-, Bau- und Sparverein Produktion"

Der Durchbruch der Genossenschaftsbewegung war aber erst geschafft, als 1899 in Hamburg der „Konsum-, Bau- und Sparverein Produktion“ gegründet wurde. Zehn Jahre später hatte man bereits siebzig eigene Läden, fast 50000 Mitglieder, eigene Wohnungen und sogar genossenschaftliche Großbäckereien oder Fleischwarenfabriken. Dies war das Vorbild für 1400 Genossenschaften mit vier Millionen Mitgliedern, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zählte. Der Bruch kam mit den Nationalsozialisten, so Fiedler: „Ihnen war der Bezug zu Gewerkschaften und Arbeitern ein Dorn im Auge.“ 1941 wurden auch die letzten Genossenschaften zwangsweise aufgelöst, sodass erst nach 1945 in West- und Ostdeutschland wieder an die alte Tradition angeschlossen werden konnte. Trotz aller Krisen in den 1970er und 80er Jahren, als Supermärkte und Discounter mit konkurrenzlosen Preisen den Konsumgenossenschaften fast den Todesstoß versetzten, sei die Motivation, gemeinsam zu handeln bis heute lebendig, so Fiedler: „Die Idee der Genossenschaften lebt weiter – überall da, wo Bedarf ist. Das können auf dem Land Dorfläden für die wohnortnahe Versorgung sein wie in Alveslohe. Oder in der Stadt größere Super-Coops.“

Mathias Fiedler vom Hamburger Genossenschaftsmuseum im Konsum-Geschäft des Museums. Foto: Christoph Schumann, 2025
Mathias Fiedler vom Hamburger Genossenschaftsmuseum im Konsum-Geschäft des Museums. Foto: Christoph Schumann, 2025

Bezahlbarer Wohnraum für alle

Auch die Idee der Baugenossenschaften, die dank der Spareinlagen ihrer Genossen, günstigen Wohnraum für alle schaffen, sei heute so stark wie vor mehr als hundert Jahren, so Genossenschaftsexperte Mathias Fiedler. Unternehmen wie die Allgemeine Deutsche Schiffszimmerer-Genossenschaft, der Bauverein der Elbgemeinden oder jüngere Baugenossenschaften schafften in Hamburg bezahlbaren Wohnraum auch in Quartieren wie der teuren HafenCity. Das Thema erschwingliche Mieten für Einheimische kennt man auch in Schleswig-Holstein – nicht zuletzt auf den Nordseeinseln. Ende 2021 wurde darum in Wyk die Wohnungsbaugenossenschaft Föhr-Amrum eG durch die Inselgemeinden und das Amt Föhr-Amrum gegründet. Ihr Zweck ist vorrangig, bezahlbares, ökologisches und selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen. Und das auf Dauer bezahlbar und in einer stabilen, gemischten Nachbarschaft. Dass dies nicht so einfach zu verwirklichen ist wie gedacht, räumt Carsten Lange vom Amt Föhr-Amrum ein. „Ein Problem auf den Inseln ist bereits, geeignete Grundstücke für Genossenschaftswohnungen zu finden. Zumal, wenn sie bezahlbar sein sollen. Da konkurrieren wir mit solventen Investoren.“

 

Hinzu komme, dass die Baukosten auf den Inseln etwa vierzig Prozent über denen auf dem Festland lägen. Lange: „Und Bauen ist bekanntlich in den letzten Jahren ohnehin teurer geworden.“ Gebaut wurde darum bisher weder auf Föhr noch auf Amrum. Nicht einmal in Planung sind bislang Objekte. Doch Optimismus war gehörte immer schon zum Genossenschaftsgedanken wie Gemeinsinn. Das möchten auch die Vereinten Nationen fördern und haben 2025 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ausgerufen.

 

Das Hamburger Genossenschaftsmuseum

Das Genossenschaftsmuseum hat Dienstag bis Donnerstag von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist kostenlos. Eine Voranmeldung über https://genossenschafts-museum.hamburg ist empfehlenswert. Besenbinderhof 60, 2007 Hamburg.

 

Genossenschaften zwischen Nord- und Ostsee

Die Angaben zur Zahl der Genossenschaften in Deutschland und Schleswig-Holstein sind schwankend. Auf Anfrage verweist das Bundesamt für Statistik in Berlin auf die Steuerangaben von 2019 – allerdings sind nicht alle Genossenschaften steuerpflichtig. Laut Wikipedia liegt die Zahl der Genossenschaften hierzulande bei etwa 8000. Das Statistikam Nord nennt auf unsere Nachfrage ebenfalls mit Verweis auf die Steuervoranmledung für Schleswig-Holstein aktuell 160 Genossenschaften. Davon sind 30 Baugenossenschaften. Eine Zahl für Dorfläden wird nicht erhoben. Statstisch erfasst sind auch nur Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 22.000 Euro.

 

 

Stand meiner Reportage: Dezember 2024. Copyright: Christoph Schumann, Hamburg 2025