Arbeitsplatz mit Aussicht - zu Gast bei der Türmerin von St. Lamberti in Münster

Türmerin Martje Saljé vor dem Aufsteig mit einer Nachtwächterplakette an St. Lamberti. Foto: C. Schumann, 2017
Türmerin Martje Saljé vor dem Aufsteig mit einer Nachtwächterplakette an St. Lamberti. Foto: C. Schumann, 2017

Münster. Wenn Münster Feierabend macht, geht Martje Saljé zur Arbeit. Jeden Abend um halb neun Uhr erklimmt die 37-Jährige genau 300 Stufen hinauf zum höchst gelegenen Arbeitsplatz der westfälischen Universitätsstadt: Seit gut drei Jahren ist die studierte Musik- und Geschichtswissenschaftlerin Türmer in St. Lamberti. Genauer: Türmerin – die erste in der mehr als 600-jährigen Türmergeschichte des ab 1375 als Markt- und Bürgerkirche von Kaufleuten der früheren Hansestadt erbauten Gotteshauses, das am Prinzipalmarkt mitten in Münsters Altstadt liegt. „Dabei gibt es nachweislich schon seit 1383 Türmer auf Lamberti“, sagt Martje Saljé beim Aufstieg, der über enge Wendeltreppen vorbei an der alten Ratsglocke und den berühmten Eisenkäfigen führt, in denen die Leichname der drei Reformatoren Jan van Leiden, Bernd Krechting und Bernd Knipperdolling 1536 nach dem Scheitern ihres Wiedertäuferreichs öffentlich als abschreckende Mahnung zur Schau gestellt wurden. Zu Tode gefoltert waren die Abweichler vom rechten katholischen Glauben da bereits.

Nach rund zehn Minuten ist Saljé am Ziel. Ihre Türmerstube liegt genau 68 Meter über dem abendlichen Treiben in den kopfsteingepflasterten Gassen der 300.000 Einwohner großen Universitätsstadt. Oben angekommen greift Europas einzige Türmerin in städtischen Diensten als erstes zum nostalgisch wirkenden Telefon: Ein Anruf beim Dienstleiter der Berufsfeuerwehr signalisiert, dass Salé ihren im wahrsten Sinn des Wortes hohen Posten als nächtliche Wachkraft bezogen hat. „Damit hat vor mehr als 600 Jahren tatsächlich alles angefangen“, erzählt die gebürtige Bremerin. „1383 gab es eine schwere Brandkatastrophe – und das wollte man nicht noch einmal erleben.“ Darum muss Saljé wie ihre Vorgänger wie einst im Notfall mit einem lauten Alarmsignal vor Gefahren warnen: einem kurzen, lauten Tuten mit ihrem Kupferhorn.

Hoch oben auf St. Lamberti:  Martje Saljé tutet die volle Stunde auf dem Türmerhorn. Foto: C. Schumann, 2017
Hoch oben auf St. Lamberti: Martje Saljé tutet die volle Stunde auf dem Türmerhorn. Foto: C. Schumann, 2017

Einsetzen musste die quirlige Türmerin das ungewöhnliche Musikinstrument dafür in ihrer Ägide zum Glück noch nicht. Nur einmal bemerkte Saljé am Stadtrand ein Qualmen, das sich zum Glück als verbotenes, aber harmloses Grillfeuer herausstellte. Umso öfter erklingt das Signalhorn hingegen zur Freude der Münsteraner und Reisenden: Zwischen 21 und 24 Uhr tutet – so die offizielle Bezeichnung – Salé das Horn nach alter Tradition zu jeder halben und vollen Stunde nach dem Schlag der Glocken von St. Lamberti als Zeitangabe. Bei Wind und Wetter geht es dazu hinaus auf die schmale Galerie rund ums Türmerzimmer. Der Rhythmus steht fest: Zunächst erklingt das Tuten auf der Süd-, dann auf der West- und zuletzt auf der Nordseite des Turms. Hörbar ist der laute Ton, der irgendwo zwischen C und Cis liegt, bis hinüber zur Baum bestandenen Promenade, der alten Stadtmauer von Münster. Warum der Türmer nie nach Osten bläst? Martje Saljé glaubt, die habe religiöse Gründe: „Im Osten liegt Jerusalem, das geziemte sich nicht.“ Derweil genießt sie auf jeder Runde den weiten Blick auf alle Sehenswürdigkeiten der Stadt wie Dom und Überwasserkirche, Kunstmuseen, den Aasee und sogar bis hinüber zum fernen Teutoburger Wald. Manchmal beobachtet sie auch Dreharbeiten zu einem der beliebten Münster-Krimis wie „Wilsberg“ weit unter ihr. Für viele Münsteraner ist der Türmer auch heute noch fester Bestandteil im Tagesablauf – erst nach dem beruhigenden Tuten der Zeit gehen sie schlafen. Auch Touristen stehen oft abends unten zwischen den Patrizierhäusern auf dem Prinzipalmarkt oder am Drubbel und grüßen und winken fröhlich hinauf zu Salé.

 

Zeit für Musik

Die Zeit zwischen ihren Einsätzen verbringt Münsters Türmerin meist in ihrem vielleicht zehn Quadratmeter großen „Reich“: Das Türmerzimmer ist gefüllt mit Fachliteratur zu Türmen aus aller Welt, schon vor ihrer Bewerbung um die ausgefallene Position ein Hobby der reiselustigen Saljé. Oft spielt die Musikpädagogin auch auf einer ihrer Flöten oder Gitarren und singt dazu. Das Türmerhorn ist nämlich ihr leichtestes Instrument – studiert hat sie Klavier, E-Bass, klassische Gitarre, aber auch Renaissance-Laute, Blockflöten und mehr. Und angebunden an die moderne Welt unter ihr ist die Türmerin in ihrer archaischen Kammer ohne fließendes Wasser und Heizung – lediglich ein elektrischer Heizofen sorgt im Winter für Wärme – auch: Regelmäßig bloggt die Freizeit-Ausdauersportlerin auf ihrem Türmerblog über eigene Gedanken, Überlegungen – und über ihr Lese-Glück und die neusten Turmstubenbücher, mit denen sie sich gerade beschäftigt hat. Sogar in Australien und den USA wird ihr Blog gelesen, weiß Salé aus Korrespondenzen.

Blick vom Turm auf den Drubbel. Foto: C. Schumann, 2017.
Blick vom Turm auf den Drubbel. Foto: C. Schumann, 2017.

Das Turmtagebuch hat Saljé von ihrem Vorgänger übernommen und hält darin Temperatur, Wind, Sternenhimmel und andere Eindrücke fest. Auch ihre seltenen Besucher wie neugierige Journalisten oder Schauspieler sind dort aufgeführt. Meist aber ist Saljé aus Versicherungsgründen allein: „Auch wenn immer wieder Anfragen zu Geburtstagen kommen oder Männer ihrer Freundin gern hier oben einen Heiratsantrag machen möchten“, lacht Münsters höchste Angestellte. Eine Ausnahme macht sie nur manchmal an Silvester. Dann dürfen Freunde und Familie zur Türmerin von St. Lamberti hinauf: „Und sie genießen mit mir das schönste 360°-Feuerwerk der Welt.“

 

 

Reiseinformationen

Allgemeine Reiseinformationen zu Münster i.W. auf www.stadt-muenster.de/tourismus/startseite.html.

Münsters Türmerin Martje Saljé bloggt lesenswert auf https://tuermerinvonmuenster.wordpress.com.