REPORTAGE Hamburg (cs). Ein langer Weg liegt hinter Nadine Schindel. Anfangs waren es über viele Wochen erste Schritte in der eigenen Wohnung. An diesem Dienstag im Vorfrühling wagt sich die 28-Jährige in Begleitung ihrer Helferin zum ersten Mal nur mit ihrer Gehhilfe hinaus auf den Gemeinschaftsflur im sechsten Stock von Festland. Wegen eines frühkindlichen Hirnschadens ist die junge Frau seit vielen Jahren eigentlich auf einen Rollstuhl angewiesen, um den Alltag bewältigen zu können. Eine spastische Lähmung beeinträchtigt vor allem Schindels Gehen, immer wieder verspannen sich ihre Muskeln nahezu ohne Vorwarnung. Umso ungestümer freut sich die chronisch kranke Frau heute – nicht zuletzt über ihre Entscheidung, in eines der ungewöhnlichsten Wohnprojekte Deutschlands eingezogen zu sein: „Festland ist großartig.“
Dramatische Versorgungslücke bei jüngeren Kranken unter 55 Jahren
Schon in die jahrelange Vorbereitung und Planung des Neubaus für das Wohnprojekt, das vor gut drei Jahren in der Hamburger HafenCity eröffnete, war Nadine Schindel eingebunden. Sie wollte ihren
bisher meist fremdbestimmten Alltag hinter sich lassen und stärker auf eigenen Beinen stehen, im wahrsten Sinn des Wortes. „Das Tolle ist: Unser Haus funktioniert tatsächlich“, lacht die
selbstbewusste Festland-Bewohnerin. Das Konzept des gemeinnützigen Vorhabens: mit Krankheit leben und in Gemeinschaft wohnen. Nicht alle der rund vierzig Bewohnerinnen und Bewohner des zwischen
Kreuzfahrtterminal Baakenhöft zur einen sowie den Elbbrücken und dem Torso des umstrittenen Elbtowers aus dem insolventen Signa-Imperium zur anderen Seite gelegenen Hauses sind nämlich krank.
„Denn unser Fundament ist es, ein Minibild der Gesellschaft zu sein“, skizziert Christian Kaiser-Williams die Idee. Darum, so der Festland-Leiter weiter, seien von insgesamt siebenundzwanzig
Wohnungen sechs frei finanziert. Die Mehrzahl von einundzwanzig aber sind von der Hansestadt gefördert für eine Zielgruppe, die in der Regel keine Lobby hat: „Festland ist geschaffen für jüngere
Betroffene zwischen 18 und 55 Jahren, die eine chronische Erkrankung haben“, so Kaiser-Williams. Speziell in dieser jungen oder jüngeren Altersgruppe gebe es eine dramatische Versorgungslücke.
Ihnen ermögliche der von Grund auf barrierefrei und rollstuhlgerecht konzipierte Neubau ein Leben mit möglichst großer Selbstbestimmung und gleichzeitig so viel Versorgungssicherheit wie nötig.
„Ganz wichtig: Das alles soll und muss auch bezahlbar sein, sonst droht Inklusion oft von vornherein zu scheitern“, ergänzt der engagierte Festland-Chef.
Gemeinschaft steht regelmäßig ganz oben auf der Agenda
„Wir schaffen Möglichkeiten“, sagt Maike Früh zum Veranstaltungsangebot für alle Bewohner, ob krank oder gesund. Zum regelmäßigen Programm gehören ein gemeinsames Frühstück im Monat, Vorträge und Aktivitäten des Rotary Clubs oder regelmäßige Kunstprojekte von Malen bis Modellieren. Zur Verfügung stehen dazu zwei große Gemeinschaftsräume, die auch über die angesetzten Termine hinaus jederzeit allen offenstehen. Manchmal wird etwa auch zusammen in der großen, rollstuhlgerechten Küche gekocht und gegessen. Im Sommer finden auf der großen Dachterrasse mit unverbaubarem Hafenblick auch Partys statt. Ohne die Unterstützung vieler ehrenamtlicher Hände und Vereine wäre der umfangreiche Kalender aber sicher kleiner, gesteht Maike Früh, die für Fragen und Anregungen wöchentliche Sprechstunden anbietet. „Wir setzen auf Gemeinschaft gegen Vereinsamung“, unterstreicht die studierte Sozialarbeiterin das Modell, das in seiner Einmaligkeit inzwischen weit über Hamburg hinaus auf Resonanz stößt. Sogar aus Frankreich kam schon eine Delegation, um sich zu informieren, ob sich vom Hamburger Weg lernen lässt.
Gelebte Inklusion: „Wir reden miteinander, nicht übereinander“
Weiterer Treffpunkt der Bewohner sind Gemeinschaftsflure, zu denen sich die Türen der meisten Wohnungen öffnen. Kleine Sitzecken laden dort zum gemeinsamen Klönschnack ein. „Ich nenne das immer unseren kommunikativen Ansatz: Wir reden miteinander, nicht übereinander“, so Maike Früh. Gelebte Inklusion in einem Haus, in dem die Charaktere der Bewohner so unterschiedlich sind wie ihr Hintergund und ihre Krankheit. Manche sind zurückhaltend und still, andere extrovertiert. Manche dynamisch und explosiv, manche bequem oder vorsichtig. Und es gibt Bewohner, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, während man anderen ihre Erkrankung kaum anmerkt. Ihre Pflege organisieren die Hausbewohner selbst je nach eigenem Bedarf. Festland ist ausdrücklich kein Pflegeheim, wobei die Hauptamtlichen Unterstützung leisten. So werden einige chronisch Kranke von ambulanten Pflegekräften besucht, andere haben eine 24-Stunden-Betreuung zuhause. Zum Beispiel Christiane (Nachname bekannt, d.Red.), die eine bettlägrige Patientin mit Multipler Sklerose betreut und von der Atmosphäre im Haus begeistert ist: „Ich bin von Anfang an dabei und mir gefallen die offene Stimmung, das Miteinander, das freundliche Du.“ Einige chronisch Kranke können dagegen selbstständig leben, benötigen etwa für den Weg zum nahen Supermarkt keine Begleitung. Und ist doch einmal Bedarf, beispielsweise fürs Abholen von Medikamenten in einer Apotheke, die im Quartier am Baakenhafen immer noch schmerzlich vermisst wird, findet sich meist schnell ein Freiwilliger in Haus oder Nachbarschaft, die über den gemeinschaftlichen Hof mit Spielplatz hinweig immer im Blick ist. Maike Früh: „So gibt es ganz verschiedene Krankheiten bei uns, aber die machen nicht die Persönlichkeiten aus. Jede und jeder hat bei uns den Ansporn, so selbstbestimmt wie möglich zu sein. Insofern gilt fast immer: Ich schaffe das.“
Dass die Nachfrage nach freien Wohnungen größer ist als das Angebot, überrascht deshalb nicht. Fast täglich, aber mindestens mehrmals in der Woche klingelt bei Christian Kaiser-Williams und Maike Früh das Telefon. „Die Hoffnung bei den Anrufern ist immer groß“, bedauert Maike Früh, „aber wir müssen regelmäßig enttäuschen. Weder haben wir freie Plätze, noch gibt es in Hamburg, Norddeutschland und generell im Land genügend Wohnungen für junge Menschen, die mir einer chronischen Erkrankung selbstbestimmt leben wollen.“ Festland wünsche sich darum Nachahmer. Maike Früh: „Es lohnt sich.“
HINTERGRUND: Das Festland
Das Wohnprojekt Festland ist einer von mehreren Bereichen der gemeinnützugen GmbH Hamburg Leuchtfeuer, die vor genau 30 Jahren im Kontext der Aidshilfe entstand. Heute unterstützt Leuchtfeuer alle Menschen mit Bedarf, unabhängig vom Krankheitsbild. Das Haus Festland liegt im weitgehend barrierefreien Quartier Baakenhafen der HafenCity. Festland verfügt über 27 barrierefreie und rollstuhlgerechte Wohnungen mit 1 bis 3 Zimmern und Größen von 48 bis 97 qm. Jede Wohnung besitzt Küche, Bad und Balkon. Zwei Gemeinschaftsräume und mehrere Begegnungsflure gehören ebenfalls zum Angebot. Interessenten müssen beim Einzug 18 bis 55 Jahre alt sein und an einer chronische, somatischene Krankheit leiden, die einen akuten oder absehbaren Bedarf an barrierefreiem Wohnraum haben. Ärztliches Attest und Wohnberechtigungsschein sind in der Regel erforderlich. Zur inklusiven Hausgemeinschaft gehören aber auch Bewohner ohne Erkrankung. Das Ende 2020 eröffnete Wohnprojekt kostete rund 10 Mio. Euro und wurde weitgehend durch private Spenden sowie Bankdarlehen finanziert. Die Miete von zurzeit 6,60 Euro bis 13,50 Euro ist nicht kostendeckend. Deshalb ist das Festland auf Spenden angewiesen. Neben dem festen Team um Festland-Leiter Christian Kaiser-Williams und Sozialarbeiterin Maike Früh tragen besonders rund 15 Ehrenamtliche zu Aktivitäten und Angeboten in der Hausgemeinschaft bei.
Stand meiner Recherche: Frühjahr 2024