PORTRÄT Hamburg (cs). Ein trüber, regnerischer Freitagmorgen im Januar dieses Jahrs. Der Weg von der Bushaltestelle zur Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg führt vorbei an Apparmenthäusern aus den 1970er Jahren, alten Villen, einem Seniorenheim und einer Pension. Still ist es, außer einigen Bauarbeitern ist auf dem knapp einen Kilometer langen Fußweg im Westen der Hansestadt niemand zu sehen. Als linkerhand der hohe Zaun rund um das parkartige Gelände der militärischen Hochschule auftaucht, sind es nur noch wenige Schritte bis zum Haupteingang der Clausewitz-Kaserne: Der zwischen 1933 und 1936 in Blankenese errichtete Standort ist seit fast siebzig Jahren die wichtigste militärische Ausbildungsstätte für die Aus-, Weiter- und Fortbildung der Bundeswehr.
Dass an diesem ruhigen Ort brennende Themen wie Wehrfähigkeit, Krieg und Frieden verhandelt werden, scheint kaum zu glauben. „So leer wie heute ist es meist nicht“, begrüßt mich Bernward Mezger am Haupteingang der kurz FüAkBw genannten Führungsakademie. Der katholische Militärdekan hat sein Büro gleich neben dem Haupttor in einem Seitenflügel. „Viele Militärangehörige sind schon im Wochenende und einige der Seminare oder Vorlesungen finden online statt“, erklärt der Geistliche, der seit gut acht Jahren das Katholische Militärpfarramt Hamburg II leitet und als Priester neben der Führungsakademie auch für das Landeskommando Hamburg und das Katholische Militärdekanat Kiel zuständig ist. „Wir sind immer erreichbar“ steht an der Tür des 65-jährigen Priesters. Eine Einladung, die Bundeswehrangehörige regelmäßig gern wahrnehmen. Denn der aus dem Ruhrgebiet stammende Mezger hat zwei Aufgaben, die in diesen Tagen mit Diskussionen rund um die von Verteidigungsminister Boris Pistorius angemahnte Kriegstüchtigkeit und Stärkung der Streitkräfte noch mehr Herausforderungen und Anstrengung verlangen als sonst: Als Hochschullehrer gibt der Theologe den den einfachen Soldaten wie den berufserfahrenen Offizieren, die an der Akademie studieren, sogenannten Lebenskundlichen Unterricht (LKU). Dazu ist der langjährige Gemeindepfarrer in Essen Seelsorger für Soldaten, aber genauso auch für deren Familien.
Erster Ansprechpartner in seelischen Krisen
„Es sind nicht unbedingt religiöse Fragen, mit denen die Soldatinnen und Soldaten zu mir kommen“, sagt Bernward Mezger. „Als Militärseelsorger kümmere ich mich erst einmal auch um übliche Gemeindeangebote wie unsere wöchentliche Messe in der Kapelle oder um Taufen oder Heiraten. Schließlich haben viele Militärangehörige Familie oder möchten eine gründen.“ Da sei er vor Ort im Rahmen der Lehrgänge oft erster Ansprechpartner. Auch Hilfe in seelischen Krisen leiste er immer wieder, erinnert sich Mezger: Da seien Trennungen aufgrund der oft jahrelangen Fernbeziehung, die Militärs führten. Oder Auslandseinsätze wie Marinepatrouillen im Mittelmeer. „Ein Schiff nenne ich gern eine seelsorgerische Intensivstation“, sagt Mezger, der selbst einige Wochen auf Fregatte an Bord war. „Den Soldatinnen und Soldaten fehlen nicht nur Partner oder Freunde, sondern schlicht jegliche Privatsphäre. Dazu kommen Routine, Eintönigkeit des Tagesablaufs und Langeweile.“ Angebote zu Gesprächen über „Gott und die Welt“, aber auch gemeinsame Ausflüge in den Häfen oder einfach nur das Wissen um diese Angebote würden dankbar aufgenommen. Noch schwieriger sei seine Rolle natürlich, wenn Soldaten oder Kameraden sterben. Sei es unerwartet an einer Krankheit oder bei einem Auslandseinsatz. Mezger war 2014 selbst mehrere Monate in Afghanistan und weiß deshalb aus eigenem Erleben, wie Leben und Stimmung vor Ort sind: „Anspannung und Stress sind meist groß. Ein offenes, unabhängiges Ohr ist dann ebenso wichtig wie Trauerbegleitung in Todesfällen etwa durch Terroranschläge.“
Nicht Religionsunterricht, sondern Persönlichkeitsbildung
Mezgers zweite Kernaufgabe ist die Lehre. Rund sechshundert angehende und Offiziere in weiterführenden Lehrgängen unterrichtet der Dozent alljährlich, wenn die Führungskräfte der Bundeswehr zum Studium in der Führungsakademie sind, die neben den historischen Hörsälen moderne Universitätsgebäude und Lehrsäle besitzt. Dass im LKU nicht nur religiöse Teilnehmer sitzen, weiß Mezger. In der Bundeswehr sei es nicht anders als in der Gesamtgesellschaft, weniger als die Häfte der Soldaten sei kirchlich sozialisiert. „Aber ich gebe ja auch keinen Religionsunterricht“, umreisst seinen Auftrag, der gleichzeitig sein Anliegen ist: „Was wir anstreben ist Persönlichkeitsbildung, sind Reife und Menschlichkeit.“ Die Lehrgangsteilnehmerinnen und -teilnehmer, meist reflektierte Persönlichkeiten um die dreißig Jahre, sollten einen ethischen und moralischen Kompass entwickeln, der sie in ihrer aktuellen oder kommenden Führungsfunktion zu einem bewussten Handeln anleiten solle. „Leitfrage ist dabei immer: Trage ich durch das, was ich tue, zum Frieden bei? Zu einem gerechten Frieden?“, fasst Bernward Mezger zusammen. Denn Leitmotiv sei immer, den Soldatenberuf als Dienst am Frieden zu verstehen. Dieser müsse darum auf einer friedensethischen Grundordnung stehen.
Die Bundeswehr erwarte mit ihrem Leitbild vom ›Staatsbürger in Uniform‹ Soldaten als Charaktere, die einen gewissensgeleiteten Gehorsam bzw. Führungsstil praktizieren. Gleichzeitig müssen sie bei aller Entscheidungsstärke verantwortungsbewusst und vorbildlich sein. Dazu gehört es, dass sie sich einen Tugendkatalog erarbeiten, im Umgang mit komplexen, moralisch fordernden Situationen geübt sind und mit fragwürdigen Denk- und Verhaltensweisen innerhalb und außerhalb der Bundeswehr kritisch und wachsam umgehen können, so Mezger. „Dafür bietet unser Unterricht einen vorurteilsfreien Raum zum freien Denken und Reden. Dort ist Platz für Kritik und Auseinandersetzungen, so dass Gedanken und Lösungen frei abgewogen und probiert werden können.“ Die Lehrenden vermittelten dazu einen ethischen, gar nicht mal rein religiösen oder christlichen ›Instrumentenkasten‹: „In allen Lehrgängen sitzen Teilnehmer, die einerseits ein soldatisches Selbstverständnis haben, andererseits aber auch ethische Aspekte der Menschenführung und nicht zuletzt Fundament und Legitimität militärischen Handelns kennenlernen wollen.“
Im Ernstfall muss auch Frieden verteidigt werden
Bereits vor sieben oder acht Jahren, nicht lange nach der Besetzung der Krim durch Russland, habe man an der Führungsakademie begonnen, die Frage der „Kriegstauglichkeit“ – noch nicht der Kriegstüchtigkeit – zu stellen. Lange fast vergessen, sei damals die Landes- und Bündnisverteidigungsbereitschaft von Nato bzw. Europa neu gestellt worden. „Das Wichtigste ist dabei immer zu unterstreichen, dass es dabei nie um Gewalt- und Angriffsbereitschaft geht, sondern um Friedfertigkeit“, betont der Militärdekan. „Wir wollen Offiziere, die Frieden bewahren und wiederherstellen.“ Er selbst biete dazu das christliche Prinzip der Gewaltlosigkeit an, wie sie Christus beispielsweise in der Bergpredigt gelehrt habe. Deshalb betone er immer wieder, dass Frieden ein Geschenk Gottes sei. Doch im Zweifelsfall müsse Frieden eben auch verteidigt werden, wenn nicht anders möglich, auch mit der Waffe. „Denn wir haben, auch als Christen, die Verpflichtung, schutzlosen Menschen zu helfen.“ Wie es auch gelte, eine eskalierte Gewalt zu minimieren. Mezger: „Nicht der Krieg soll gewonnen werden, sondern der Frieden.“ Ziel sei immer ein gerechter Frieden. Alles kreise darum um die Frage, welchen Frieden wir wollen: „Was steht uns zu? Was wünschen wir uns?“ Dies wolle er im Rahmen seines Kontakts mit den militärischen Führungskräften vermitteln. Denn die geänderte Rolle der Bundeswehr etwa mit der dauerhaften Stationierung einer Brigade in Litauen schon in wenigen Monaten bedeute eine Zäsur, so Mezger: „Damit wird das Verständnis des Soldatenberufs als Dienst am Frieden noch dringlicher. Und nicht nur unsere Soldaten dort fragen sich tagtäglich: Trage ich durch das, was ich tue, zum Frieden bei?“
Stand: April 2024, Copyright Text und Fotos: Christoph Schumann, Hamburg 2024