„Plattdeutsch muss man pflegen“ – der "Hörblatt"-Erfinder Gerd Feldhusen aus Hamburg

Gerd Feldhusen, Erfinder des "Hörblatts" in seinem Hamburger Garten. Foto: Christoph Schumann, 2023
Gerd Feldhusen, Erfinder des "Hörblatts" in seinem Hamburger Garten. Foto: Christoph Schumann, 2023

PORTRÄT Hamburg (cs). Seit fünfzehn Jahren gibt es die Hörzeitung „Dat Hörblatt“ – erfunden hat Deutschlands einziges Hörmagazin auf Platt für Blinde, Nichtsehende und Sehbehinderte der Hamburger Gerd Feldhusen

 

Von Christoph Schumann

 

„Eegentlich wull ik Paster warrn“, lacht Gerd Feldhusen. Und zitiert damit gleich am Anfang unseres Gesprächs in der heimischen Gartenwohnung im Hamburg-Eidelstedt den Titel seiner vor rund zwanzig Jahren aufgeschriebenen Erinnerungen an die Kindheit an der Nordsee. Gleichzeitig reist der pensionierte Kriminalpolizist damit aber auch eine Lebenslinie, der der heute 84-Jährige seit seinen Kindheitstagen folgt: dem Plattdeutschen. Und da ich, obwohl ›vorgewarnt‹, als Quiddje – sprich: Zugezogener und Hochdeutschsprechender – leicht fragend schaue, übersetzt Feldhusen schnell: „Ich wollte eigentlich mal Pastor werden.“

 

Doch die Zeiten waren damals, in den 1950er Jahren anders, erinnert sich Feldhusen. „Mein Vater war ab 1948 nach der Rückkehr aus dem Weltkrieg lange Verwalter an der Seefahrtsschule an der Rainvilleterrasse in Altona. Und er wollte, dass ich etwas Vernünftiges, Praktisches lerne, mit dem sich Geld verdienen lässt.“ So entscheidet sich der junge Gerd für eine Lehre als Feinmechaniker und technischer Zeichner, langweilt sich aber schnell. „Büro war nicht mein Ding.“ Und so wechselte Feldhusen Ende der 1950er zur Polizei und hatte fortan Tag für Tag mit Menschen zu tun – „und das hat ein Pastor ja auch“, erkannte Feldhusen irgendwann. Denn sein soziales Engagement und Verständnis für Menschen unterschiedlichster Herkunft wird eine zentrale Triebfeder seiner Arbeit: „Warum begehen manche Straftaten? Und kann man Menschen ändern?“

 

Fünfzehn Jahre Hörbuch

Neugier und der Wunsch zu helfen und zu unterstützen sind über Jahrzehnte Feldhusens Motivation sowohl als Verkehrspolizist wie später als Drogenbeauftrager im Westen der Hansestadt, vor allem aber bei der gewaltpräventiven Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Dass zur Gewalt- dann auch noch Suchtvorbeugung kommt, macht Feldhusen nur noch mehr seinen zwischenmenschlichen Anspruch bewusst. Und schlägt gleichzeitig einen Bogen zurück in seine eigene Jugend. Denn nach der Pensionierung 2008 droht der gebürtige Hamburger, der sein Leben lang nur Arbeit kannte, in ein Loch zu fallen. „Wenn man sein Arbeitsleben abgeschlossen hat, sucht man nach einer sinnvollen Tätigkeit“, sagt Feldhusen. Zufällig las der im Nordwesten der Elbmetropole Lebende 2008 einen Bericht über Hörzeitungen. „Ich hatte bis dahin keine Ahnung, was das sein sollte und dass es so etwas überhaupt gab.“ So machte sich der frühere Beamte kundig und erfuhr erstmals von Hörmagazinen für Nichtsehende und Sehbehinderte. „Das wollte ich auch machen“, wusste Feldhusen sofort. Wenig später machte er eine Ausbildung zum Redakteur in der Redaktion der „Aktion Tonband-Zeitung für Blinde“ (ATZ) im nordrhein-westfälischen Bückeburg. Spätestens da stand der Titel seiner Hörzeitung fest: „Dat Hörblatt“. Weil der Norddeutsche auch im Rahmen der Ausbildung seine Kollegen mit plattdeutschen Döntjes und Liedern überraschte, riet ihm ein Profi, auch seine Geschichten auf Plattdeutsch zu veröffentlichen. Beide hatten den richtigen Riecher. Und Feldhusens Erfolg gab und gibt ihm recht – „Dat Hörblatt“ feiert im Juli fünfzehnjähriges Jubiläum.

 

Nachkriegszeit

Doch woher kommt Feldhusens Liebe zum Platt? „Zu Beginn des Krieges mussten wir Hamburg verlassen“, so der 1939 geborene Feldhusen. Zunächst ging es einige Zeit nach Lüneburg. Dann – der Vater war mittlerweile an der Front – zogen Mutter und Kind zu den Großeltern nach Cuxhaven. „Und Oma und Opa sprachen nur Plattdeutsch“, so Feldhusen, der noch wie damals weiß, dass er zunächst kein Wort verstand. „Das hat ein paar Wochen oder Monate gedauert – dann konnte ich auch Platt snacken.“ Die Sprache hat er nie vergessen, auch wenn sie viele Jahre berufs- und familienbedingt in den Hintergrund gedrängt schien. „Aber als ich dann in Rente ging, kam alles quasi über Nacht wieder. Ich habe angefangen, meine Erinnerungen zu sammeln und aufzuscheiben – und das passierte wie selbstverständlich auf Platt.“ Darum war es für den „Hamborger Geschichtenschriever“ auch nur ein kurzer Weg zu seinem „plattdüütsch Hörbook“.

Gedruckte Erinnerungen: "Eigentlich wollte ich Pastor werden" – im Original natürlich auf Platt. Foto: Christoph Schumann, 2023
Gedruckte Erinnerungen: "Eigentlich wollte ich Pastor werden" – im Original natürlich auf Platt. Foto: Christoph Schumann, 2023

Denn die Kunde vom ungewöhnlichen Hörgenuss verbreitete sich schnell über Hamburgs Grenzen hinaus. Zunächst nach Norddeutschland von Ostfriesland bis Mecklenburg. „Doch es meldeten sich rasch Plattfans aus ganz Deutschland und aller Welt“, sagt Feldhusen. „Die meisten, aber nicht alle, fortgezogene Hamburger, die in die USA, nach Spanien oder in andere ferne Länder gezogen sind.“ Sogar eine Universität bat bereits um eine Hörzeitung für den Einsatz im Sprachunterricht. Aber wie findet man Monat für Monat, denn so oft erscheint „Dat Hörblatt“, neue hörenswerte Themen? „Ich suche meine Geschichten überall“, so Feldhusen, „auf dem Stadtteil-Wochenmarkt hier in Eidelstedt, in Cafés, auf dem Hamburger Dom, in der Gemeinde. Ich frage und interviewe Menschen, die mich interessieren.“ Die Geschichten nimmt er auf, schreibt sie dann auf und liest sie später für „Dat Hörblatt“ ein. Außen vor bleibt nur Politik, denn „davon verstehe ich nicht genug“, gibt Feldhusen zu. Entscheidend sei vor allem, dass Nichtsehende im übertragenen Sinn mit den Händen denken, weshalb eine Beschreibung möglicht genau und lebendig sein sollte.

 

Von der Kassette zum Digitalhörbuch

Wurde „Dat Hörblatt“ anfangs noch als Tonband-Kassette an die rund einhundert Abonennten verschickt, werden die Geschichten heute auf CD gebrannt und gehen per Post in alle Welt – sogenannte Blindenpost ist portofrei. Seit kurzem sind sie allerdings auch im MP3-Format online zu finden. Um die technischen Dinge kümmert sich seit einiger Zeit Feldhusens Sohn Klaus. Und auch seine Rolle als Chefredakteur von „Dat Hörblatt“ hat der Erfinder vor einiger Zeit in jüngere Hände gegeben, um sich nicht mehr um Tagesgeschäft, Organisation und Vertrieb kümmern zu müssen. „So bleibt mir mehr Zeit, loszuziehen und meine eigenen Geschichten zu finden und zu erzählten“, begründet der Senior-Medienmacher. „Das macht mir am meisten Spaß – so habe ich Kontakt zu meine Hörern und fördere mein geliebtes Plattdeutsch. Es gibt Dinge, die muss man pflegen. Sonst werden sie vergessen.“

 

Stand meiner Recherche: Sommer 2023