Christoph Schumann
REPORTAGE Hamburg (cs). Kaum hat man die schwere Stahltür zum Forum für Künstlernachlässe durchschritten, steht man inmitten von Kunst. Deckenhohe Regale sind vollständig mit stehenden Gemälden gefüllt, sogarfältig mit Schutzmaterial vor Staub, Sonnenlicht und Druckschäden umhüllt. Hier und da stehen kleinere Skulpturen vor den Archivregalen, als suchten sie noch nach ihrem endgültigen Platz. „Und das sind noch längst nicht all unsere Schätze“, begrüßt mich Gora Jain. „Weitere Werke liegen in zwei Außenarchiven in Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Unser Raum hier ist schon lange viel zu begrenzt.“ Die promovierte Kunsthistorikerin gehörte vor genau zwanzig Jahren zu den Gründern des deutschlandweit federführenden Vereins. Ziel ist laut Satzung die Förderung von Kunst, die Pflege und Erhaltung von Kulturwerten und die Unterstützung von Künstlerinnen und Künstlern in Hamburg und Norddeutschland. Was 2003 mit wenigen Nachlässen begann, umfasst heute rund einhundert Hinterlassenschaften – Tendenz steigend.
Für künftige Generationen
„Aber auch wenn wir gern wollten, wir können leider nicht alles annehmen und bewahren“, sagt die 1967 geborene Vereinsvorsitzende und Dozentin Jain zum Dilemma des FKN abgekürzten Forums für
Künstlernachlässe. Nicht nur sei der Platz im Anbau des Künstlerhauses Sootbörn in Hamburg-Niendorf ausgeschöpft, so dass zwischenzeitlich bereits ein Aufnahmestopp für Neuzugänge erfolgen
musste. Es müssten auch wichtige kulturelle Kriterien erfüllt sein, damit die Kunstwerke zukünftigen Generationen erhalten bleiben: „Zum einen muss es der Nachlass eines Berufskünstlers sein“, so
Gora Jain. „Darüber hinaus muss der Nachlass repräsentativ sein für seine Zeit oder Epoche, er sollte einen gewissen Umfang haben und in gutem Zustand sein.“ Denn Geld für Restaurierung oder
Aufarbeitung hat der gemeinnützige Verein nicht. Auch einen Ankaufsetat hat das FKN nicht. Alle Nachlässe sind Schenkungen „,meist von Erben wie Eheleuten, Familienmitgliedern oder sonstigen
Verwandten“, so Jain. Weil Künstler sich viel zu selten schon zu Lebzeiten um den Fortbestand ihres Œvres kümmerten, berieten die Ehrenamtlichen des FKN Erben regelmäßig in künstlerischen, aber
auch in rechtlichen Fragen wie Bildrechten, Verkäufen oder ähnlichem.
Hamburger Institution
Als Hamburger Institution gegründet, liegt der Schwerpunkt der Sammlung auf regionalen Arbeiten. Schätzungsweise zwischen zwanzig- und dreißigtausend Werke seien bereits digital erfasst, so ganz
genau wissen man dies aber nicht, verrät Nachlassverwaltering Jain, die wie die anderen Engagierten derzeit von einer festangestellten Kunsthistorikerin bei allen Tätigkeiten von Katalogisierung
über den Verleih ausgwählter Werke – die beispeilsweise für Sammelausstellungen im In- und Ausland, selten auch privat verliehen werden – bis hin zur Vorbereitung der jährlich zwei eigenen
Ausstellungen unterstützt wird. Der Bedarf an der Bewahrung von Nachlässen sei ohne Frage da, ja steige sogar, unterstreicht Jain: „Hätten wir die Werke nicht gelagert, wären die meisten ganz
sicher längst zerstreut, wenn nicht weg.“ Darum sei sie genau wie vor zwanzig Jahren am Beginng von der Idee der Nachlasssammlung überzeugt. „Wir müssen die Kunst aufheben, denn wer weiß
schon, was in fünfzig oder einhundert Jahren als bedeutend angsehen wird. Viele Künstlerinnen und Künstler gerieten in Vergessenheit, um erst einige Jahre später in ihrer Bedeutung erkannt und
wiederentdeckt zu werden.“
Von 1900 bis heute
Der bisher vom FKN gesicherte Bestand spiegelt die große Vielfalt des Kunstschaffens verschiedener Epochen und des kulturellen Lebens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wider. Am Anfang stehen
Namen wie Friedrich Ahlers-Hestermann und Alexandra Povòrina, die als Vertreter der in den 1880er Jahren Geborenen die sogenannte Franzöische Moderne in der Elbmetropole durchsetzten. Beide waren
Mitglieder der bedeutenden Künstlervereinigung Hamburgische Sezession, die nach dem Ersten Weltkrieg entstand und sich 1933 auf Druck der Nationalsozialisten auflöste. Die Zeitspanne führt weiter
bis in die Gegenwart mit dem knapp hundert Jahre später geborenen Wlodek Bzowka, der am Beginn einer vielversprechenden Künstlerlaufbahn 2007 einem Verkehrsunfall erlag. Unter den Nachlässen sind
auch wenige aus Schleswig-Holstein wie etwa Werke des in Kiel verstorbenen Hannes Schultze-Froitheim (1904–1995) oder des 1939 in Kiel geborenen Christoph Böllingen (gest. 2016). „Schon aus
Kapazitätsgründen müssen und wollen wir unseren Fokus auf Hamburg legen“, sagt Gora Jain, die als Mitgründerin des FKN auch treibende Kraft im Bundesverband Künstlernachlässe (BKN) ist, dem
bisher etwa dreißig vergleichbare Institutionen angehören, die überwiegend nach Hamburger Vorbild entstanden sind.
Sie alle kämpften mit einem grundlegenden Missverständnis, findet die Expertin: „Denn Künstlernachlässe gelten bislang in der Regel immer noch als Privatsache. Wir müssen ihre Bewahrung aber zu
einer öffentlichen Aufgabe machen und sie professionell betreuen. Ich vergleiche dies immer mit dem Denkmalschutz: Bedeutende Werke der bildenden Kunst gehören zur allgemeinen, kollektiven
Erinnerung – sie erzählen künftigen Generationen unsere Geschichte und Geschichten. In ihnen speichert sich die Zeit viel intensiver als in anderen Gegenständen. Sie sind Ausdruck der Haltung
einer Gesellschaft und ästhetischer Vorlieben einer Epoche und verraten nicht zuletzt viel über individuelle Lebensentwürfe.“. Und Jain beschließt ihr Plädoyer: „Kunstobjekte sind sichtbare
Zeugnisse der Vergangenheit und rücken dem Betrachter besonders nah, wenn darin als weitere Dimension auch noch eine regionale Tradition sichtbar werde.“
Zwischenrufe und Neubaupläne
Zumindest in Hamburg scheint das jahrzehntelange, dauerhafte Mahnen des Vereins inzwischen Gehör auch in Öffentlichkeit und Politik zu finden. So bezog das Forum zum Beispiel in der kürzlich
ausgetragenen Diskussion um den Wiederaufbau der Synagoge am Bornplatz im Hamburger Grindelviertel deutlich Stellung – mit einer Ausstellung zum Werk von Margit Kahl. Die 2008 verstorbenen
Künstlerin gestaltete das Synagogenmonument am Joseph-Carlebach-Platz, das seit 1988 an das zerstörte Gotteshaus erinnert. Dieser Erinnerungsort besitze eine überregionale Bedeutung und dürfe
nich ohne weiteres bebaut werden. Wichtig ist Gora Jain vor allem auch, dass der Bestand des FKN gesichert werde. Dazu soll in naher Zukunft am jetzigen Standort in Flughafennähe ein
zweigeschossiger Neubau entstehen, sodass zusammen mit dem jetzigen Künstlerhaus ein attraktives Gebäudeensemble entsteht. Auf knapp siebenhundert Quadratmetern soll der freistehende Neubau
erstmals alle Nachlässe zusammenführen und sachgerecht lagern können, vor allem aber die Möglichkeit zu mehr Ausstellungs- und Arbeitsfläche als bislang bieten. Finanziert werden soll das gut
zwei Millionen Euro teure Haus (Baukosten 2021) zu Teilen aus öffentlichen sowie aus Geldern der eigens gegründeten privaten Stiftung Forum Künstlernachlässe Hamburg. Gora Jain ist die Vorfreude
anzumerken, wenn sie sagt: „Wir hätten dann dreimal so viel Fläche wie derzeit – und dreimal so viele Möglichkeiten. Ich kann es kaum noch erwarten.“ Baubeginn soll nach Möglichkeit
zeitgleich mit der verschobenen Jubiläumsausstellung „20 Jahre FKN“ im Frühjahr kommenden Jahres sein.
Was kommt: nächste Ausstellung und Jubiläum
Am 5. November startet die nächste Ausstellung im Forum für Künstlernachlässe Hamburg mit dem Titel „Wege in die Abstraktion“. Sie setzt nachgelassene Werke von Kreativen wie Bert Düerkop,
Christiane Nockemann, Burkhard Vernunft, Verena Vernunft und Karl Heinz Wienert in einen spannenden Dialog mit Arbeiten des 1972 geborenen Hamburger Malers Peter Nikolaus Heikenwälder. Zu sehen
ist die Schau bis 19. November jeweils Freitag und Samstag 15 bis 18 Uhr sowie Sonntag von 11 bis 17 Uhr sowie nach Vereinbarung.
Die verschobene Jubiläumsausstellung zum 20. Geburtstag des Forums findet voraussichtlich im Juni kommenden Jahres statt, wenn auch der erste Spatenstich zum geplanten Neubau am Sootbörn 22
erfolgen soll.
Stand meiner Reportage: Hamburg, Oktober 2023. Copyright Text und Fotos: Christoph Schumann, Hamburg