Die Hamburger Trauerexpertin Ina Hattebier: Denken an Sterben und Tod – mitten im Leben

Die Hamburger Künstlerin Ina Hattebier mit einer ihrer selbstgemachten Urnen in ihrem Atelier in Hamburg-Altona. Foto: Christoph Schumann, 2020
Die Hamburger Künstlerin Ina Hattebier mit einer ihrer selbstgemachten Urnen in ihrem Atelier in Hamburg-Altona. Foto: Christoph Schumann, 2020

Von Christoph Schumann

Hamburg. Beim Eintreten wirkt das Atelier von Ina Hattebier in Hamburg-Altona wie andere Künstlerwerkstätten auch. Der hohe Raum – einst die Kantine der Alten Dosenfabrik, die heute fast 30 arbeitende KünstlerInnen unter einem Dach versammelt – ist hell, geräumig, randvoll mit Schränken und Regalen voller Arbeitsmaterial sowie weit ausladenden Arbeitstischen. Wäre da nicht der zweite Blick auf den Werktisch vor dem Fenster: Handelt es sich bei den konisch geformten Gefäßen mit Deckel etwa um – Urnen? „Der Eindruck trügt nicht“, sagt Ina Hattebier und muss dabei fast lächeln. „Ich bin von ganzem Herzen Künstlerin“, so die unter anderem an der Hochschule für Bildende Kunst in der Freien- und Hansestadt ausgebildete Kreative weiter, „und dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit den Grenzbereichen des Lebens. So hat der Tod sich allmählich in mein Leben geschlichen.“

Und das kam ebenso nebenbei wie rückblickend folgerichtig. Nach ihrem Studium beschäftigte sich die 58-Jährige zunächst vor allem mit Video- und Fotoarbeiten, Animationen und Projektionen. Dazu unterrichtet sie einige Jahre an der privaten Design Factory Hamburg. Als Anfang der 2000er ihre Tochter geboren wird, erscheint Hattebier die Kunstwelt immer fremder. Der Wunsch nach der Beschäftigung mit etwas Sinnstiftenderem, das Kunst und (Zwischen-)Menschliches verbindet, wächst. Im Rahmen eines Studierendenprojekts hatte die junge Mutter bereits zuvor ein Kochbuch für die Organisation Hamburg Leuchtfeuer entwickelt, die ein Hospiz für Schwerkranke und Sterbende unterhält. Gemeinsam mit den jungen Nachwuchsdesignern diskutierte sie plötzlich viel über Trauer und Sterben. Überraschend viele hatten sich bereits Gedanken gemacht, sei es aufgrund von Todesfällen in der Familie oder wegen des Suizids eines Freundes. Dann entwarf man andere Trauer- und Beileidskarten für das Hospiz, aus denen eine Ausstellung wurde.

Ausgebildete Trauerbegleiterin

„Ich habe mehr und mehr festgestellt, wie spannend das Thema Tod ist und gemerkt, was ich alles nicht weiß“, erinnert sich Hattebier. Als sie für Leuchtfeuer eine Broschüre zur Ausbildung als Trauerbegleitung erstellte, wurde sie hellhörig: „Mich hat das neugierig gemacht, darum habe ich mich selbst zur Trauerbegleiterin forbilden lassen – auch um meine eigene Trauerbiografie zu erforschen.“ Dass dies nicht zum Beruf werden sollte, stand von Anfang an fest. Denn dazu war und ist Ina Hattebier zu sehr die Kreative, die Künstlerin. Und immer auf der Suche nach Neuem. Auch nach neuen Materialien: Als sie mit ihrer Tochter Papierbögen aus heimischen Pflanzen, Seegras und Algen schöpft, wächst ihre ohnehin große Liebe zum Papier. Und sie spürt, dass die Themen Leben, Tod und Papier zusammenhängen und sich ergänzen. Denn Papier ist ebenso vergänglich wie die Holzfasern, aus denen es gemacht wird.

 

Als sie bei einer Beerdigung erstmals erfährt, wie warm und persönlich eine mit Papier gestaltete Urne sein kann, ist bei der Hamburgerin der entscheidende Impuls für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema gelegt: Hattebier beginnt, selbst Urnen zu gestalten, die alles sind, nur nicht gewöhnlich. Die nachhaltigen Urnen – hergestellt aus dem auch Flüssigholz genannten Biowerkstoff Lingin und deshalb biologisch abbaubar – gestaltet sie mit handgeschöpftem nepalesischem Lokta-Papier oder edlem italienischem Carta Vares oder Carta Fiorentina aus Venedig und Florenz aufwendig in verschiedensten Farben. Mal mit Blumenmuster, mal mit Linien, mal mit bunten Punkten. Insgesamt sind es zehn Varianten. Ganz individuell und nach Wunsch der Besteller, die meist die Hinterbliebenen sind. Hattebier: „Nur äußerst selten sucht sich jemand das Muster für seine Urne noch zu Lebzeiten aus.“ Es kommt aber vor. Vier bis sechs Stunden dauert das Kaschieren, also Bekleben einer Urne vom Zerreissen des Papiers bis zum sanften Aufbringen auf die Urnen. So entstehen Hattebiers „Andere Urnen“, die die Künstlerin selbst etwa auf Kunst- oder Bestattungsmessen vorstellt, mal selbst verkauft, aber auch in Kooperation mit ausgewählten Bestattern anbietet.

Die Bestattungs- und Trauerkultur ist im Wandel weiß Ina Hattebier, hier in ihrem Atelier in Hamburg-Altona. Foto: Christoph Schumann, 2020
Die Bestattungs- und Trauerkultur ist im Wandel weiß Ina Hattebier, hier in ihrem Atelier in Hamburg-Altona. Foto: Christoph Schumann, 2020

Bestattungskultur im Wandel

Eine Urne für einen verstorbenen Angehören auszusuchen sei für viele Angehörige ein Teil der Trauerarbeit, hat die Künstlerin gemerkt: „Sich zu überlegen, welche Farbe und welches Muster der oder dem Verstorbenen gefallen hätte, kann helfen, das Erlebte zu begreifen. Außerdem tröstet der Gedanke, der oder dem Toten einen letzten Gefallen zu erweisen.“ Bestattungskultur sei immer im Wandel, weiß Hattebier. Was sich aber in den letzten Jahren spürbar ändere, sei der Wunsch von immer mehr Menschen, über die Themen Tod, Sterben, Jenseits, aber auch Leben und Vorbereitung zu sprechen. Dies sei nicht nur bei älteren Menschen zu merken, sondern auch bei jüngeren. So sei es heute viel offener möglich, über individuellere Bestattungs- und Trauerformen zu reden als noch vor wenigen Jahren. Gerade auch abseits oder parallel zu den konfessionellen Riten. Gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten gründete Ina Hattebier das Netzwerk Trauerkultur. Und betreibt seit 2016 zusammen mit Freundin Ute Arndt auch die Hamburger Death Cafés – einen ursprünglich in der Schweiz und London ins Leben gerufenen Austausch über Abschiede und die Vergänglichkeit des Lebens.

 

Drei bis vier Mal im Jahr laden die Initiatorinnen zu den offenen Treffen ein, in deren Rahmen sich meist um die 30 wechselnde TeilnehmerInnen an immer anderen Orten rundum in Hamburg zwei oder drei Stunden lang offen und vorurteilslos über Tod und Sterben austauschen (Corona-bedingt in diesem Jahr ausnahmsweise auch als Videotreffen). Bei Kaffee, Kuchen und Snacks, denn, so Hattebier, „die Café-artige Atmosphäre schafft Leichtigkeit“. Und immer kommen Menschen, die am Thema interessiert sind. Vielleicht, weil sie das Gefühl haben, demnächst damit selbst konfroniert zu werden. Oder beispielsweise weil die Frage akut wird, was passiert, wenn die eigenen Eltern alt werden. Die alles geschehe überkonfessionell und nicht religiös, so Hattebier, die auch nach fast zwanzig Death Cafés immer noch überrascht ist, wie aufregend und horizonterweiternd die Abende sein können: „Je mehr man sich mit Tod und Sterben auseinandersetzt, umso toleranter wird man. Man erkennt die Unterschiedlichkeit im Erleben – das ist ungemein spannend und überhaupt nicht ermüdend.“ Und immer klarer werde ihr angesichts unser immer differenzierter werdenden Gesellschaft eines, so das Fazit von Ina Hattebier: „Es gibt keine richtige und keine falsche Trauer.“

Hintergrund

Das Hamburger Netzwerk Trauerkultur lädt drei bis vier Mal im Jahr zu einem kostenlosen Death Café ein. An wechselnden Veranstaltungsorten und in wechselnden Gruppen tauschen sich Interessierte bei Kaffee, Kuchen und Snacks zwanglos und offen über Tod und Sterben aus. Zum Netzwerk der Einladenden gehört neben Ina Hattebier auch Ute Arndt, die ebenfalls seit vielen Jahren dabei ist. Beide betonen, dass Death Cafés anders als etwa konfessionelle Trauercafés keine Trauerbegleitung bieten können und wollen und sich auch nicht als Selbsthilfegruppe für beispielsweise Hinterbliebene verstehen. www.netzwerk-trauerkultur.de.

Mehr zu den individuellen, künstlerisch gestalteten persönlichen Urnen von Ina Hattebier auf www.andere-urnen.de.

 

Copyright Idee, Text und Fotos: Christoph Schumann, Hamburg, 2020/2021, www.christophschumann.de