Erholung ohne Verreisen - ein Interview mit dem Hamburger Psychiater Michael Stark

Der Hamburger Psychiater Michael Stark. Foto: privat.
Der Hamburger Psychiater Michael Stark. Foto: privat.

Von Christoph Schumann

 

INTERVIEW Hamburg. Der Hamburger Psychiater und Psychotherapeut Michael Stark forscht seit Jahrzehnten zur Bedeutung von Urlaub und Reisen – auch in Corona-Zeiten rät er zu Abstand vom Alltag und allen, die in den bevorstehenden Herbstferien daheimbleiben, zu kleinen Fluchten in die Region

 

Herr Prof. Stark., Sie gelten als einer der führenden Urlaubsforscher Deutschlands, wenn es um die seelischen Vorzüge einer Reise geht. In diesem Jahr mussten und müssen viele Menschen auf eine Reise verzichten. Kann man sich trotzdem erholen?

Michael Stark: Urlaub bedeutet üblicherweise, aus Alltag und Routine auszubrechen. Das zeigt schon die Herkunft des Wortes: Das mittelhochdeutschen „urloup“ bedeutete „Erlaubnis“. Gemeint war mit Urlaub später in Zeiten der Industrialisierung die Erlaubnis, sich eine Zeitlang von der Arbeit zurückziehen zu dürfen. Und zu können – was zunächst finanziell auch nicht jedem Arbeiter möglich war. Ich bin überzeugt davon, dass Urlaub sein muss.

Warum? Manche Experten behaupten, Urlaub liege gar nicht in der Natur des Menschen.

Das war vielleicht früher einmal so. Aber unser modernes Arbeitsleben ist Tag für Tag so eng getaktet, dass es kaum noch Freiräume gibt. Vor 50 Jahren war der Job trotz längerer Arbeitszeit deutlich lockerer getaktet. Heute gibt es beispielsweise eine Präsenzpflicht, die viele Arbeitnehmer zwingt, ständig erreichbar zu sein. Und dank moderner Zeiterfassung und permanentem Anschluss an Inter- und Intranet oder andere Firmennetzwerke sind fast alle längst gläserne Arbeitnehmer. Nahezu jede Tätigkeit, jeder Arbeitsfortschritt muss dokumentiert und festgehalten werden – das gilt für Call-Center-AgentInnen ebenso wie für ChefärztInnen in einer Klinik. Wir brauchen aber Zeit für uns.

 

Hier kommt also der Urlaub ins Spiel ...

Nicht unbedingt. Denn wir brauchen auch im Alltag Phasen der Ruhe und Freiheit. Aber besonders der Urlaub gibt uns die Freiheit zurück, das zu tun, was jede und jeder unbedingt tun muss: Einen Tag wirklich frei gestalten zu können. Und das zu tun, was im Alltag zu kurz kommt und von dem wir merken, das wir es schmerzlich vermissen. Das kann für die eine eine Radtour sein. Für den anderen aber eine Wanderung oder ein Museumsbesuch. Nur Nichtstun ist nicht zielführend, weiß ich aus meiner täglichen Praxis.

 

Was soll daran denn falsch sein?

Ich rate immer zu Abwechslung. Man muss das Leben spüren. Die meisten von uns haben aber verlernt, auf ihr Inneres zu hören und merken oft nicht oder zu spät, was ihnen im Alltag fehlt. Ich rate zu mehr Selbstachtsamkeit. Anders gesagt: Achten Sie früh auf körperliche und seelische Symptome, am besten, schon ehe Sie sich urlaubsreif fühlen. Wer schlecht einschläft, nicht durchschläft, plötzlich mehr isst oder raucht, erlebt Stress. Im Auto leuchtet am Armaturenbrett eine Warnlampe auf, wenn Öl fehlt oder der Motor unrund läuft – dann tun wir schnell etwas. Nur bei uns selbst sind wir oft viel weniger rücksichtsvoll.

 

Wie können wir denn unsere inneren Warnsignale erkennen?

Bei chronischer Anspannung kommt Erholung fast immer zu kurz. Symptome wie Gereiztheit oder Magenschmerzen nehmen zu. Zu meinen Patienten gehören viele Burnout-Geschädigte, die lange brauchen, zu sich und ihren Bedürfnissen zu finden. Im Alltag fehlt uns fast immer ausreichend Bewegung, gern draußen an der frischen Luft. Ich rate auch zu Meditation oder Yoga zur Entspannung. Wenn das vegetative Nervensystem aus der Balance ist und Tiefschlaf und Ruhe Fremdworte werden, ist spätestens Zeit für Urlaub. Chronische Erschöpfung gilt es rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Auch wenn seit Anfang des Jahrtausends Stress und Druck bei allen ArbeitnehmerInnen objektiv zugenommen haben.

 

Dann nichts wie weg?

Ich weiß aus meiner jahrzehntelangen Tätigkeit, dass Urlaub vielleicht das beste Mittel ist, Abstand vom Alltag zu gewinnen. Erst dann gleitet man allmählich wieder in seinen eigenen Rhythmus zurück. Vierzehn Tage Urlaub sind meiner Meinung nach das Minimum. Und am besten sollten man nicht nur einen Haupturlaub im Jahr machen, sondern wenn möglich kleine Auszeiten nehmen. Wer zuhause bleibt, muss aufpassen. Das habe ich kürzlich selbst erlebt: Ich wollte eine Woche abschalten und frei machen – da lag die Aufforderung zur Steuererklärung im Briefkasten. Mein Tipp: Wer frei hat, sollte nicht in Briefkasten oder Mails schauen. Ganz bewusst.

 

Das kann natürlich nicht jeder – und aktuell haben viele ihre Urlaubstage vielleicht sogar schon aufgebraucht, etwa, weil sie wegen Corona im Frühjahr Zwangsurlaub nehmen mussten. An Wegfahren in den Herbstferien ist da nicht zu denken. Zumal die Zahl der Risikogebiete selbst in Europa wieder wächst.

Das stimmt. Darum braucht man meiner Meinung nach ritualisierte kleine Fluchten. Das gilt schon im Alltag, wo ein wöchentlicher Sportabend mit Bekannten oder ein Spieleabend mit Freunden Abwechslung bringt. Oder ein Wochenende daheim. Die eigene Region per Rad oder in Wanderstiefeln neu zu entdecken, kann genauso viel Spaß wie eine Fernreise. Ein Beispiel: Statt einen Familienurlaub zu planen, können sich alle zusammensetzen und Vorschläge machen, diskutieren und einen Kompromiss zu finden. In Schleswig-Holstein gibt es so viele tolle Nahziele, das genug Diskussionsstoff ist. Wichtig: Nicht alle müssen alles machen – jedes Familienmitglied darf und muss auch einmal seinen Vorlieben frönen, ob es das lange Ausschlafen ist oder ein Museumsbesuch. Wir müssen uns mehr gönnen, denn die Selbstfürsorge ist in unserer Leistungsgesellschaft zu wenig ausgeprägt.

 

Hintergrund: Das Interview mit Prof. Stark habe ich im September 2020 geführt.