Ein Besuch im Trauerzentrum des Erzbistums Hamburg im Norden der Hansestadt: „Es gibt viele Anlässe zu trauern“

Stephan Klinkhamels leitet das Trauerzentrum des Bistums Hamburg in Hamburg-Stellingen. Foto: C. Schumann, 2019
Stephan Klinkhamels leitet das Trauerzentrum des Bistums Hamburg in Hamburg-Stellingen. Foto: C. Schumann, 2019

INTERVIEW Hamburg. Stephan Klinkhamels kennt sich mit Trauer und Trauernden aus. Als Leiter des in Norddeutschland einmaligen katholischen Trauerzentrums und Kolumbariums in der Kirche St. Thomas Morus in Hamburg ist der gebürtige Hamburger tagtäglich mit den unterschiedlichsten Arten von Abschied und Trauer konfrontiert. Die vom Erzbistum Hamburg getragene Begegnungsstätte unweit des berühmten Tierparks Hagenbeck steht seit ihrer Eröffnung vor drei Jahren allen Menschen und Betroffenen offen – unabhängig von Religion, Alter oder Herkunft. Das Trauerzentrum bietet allen Menschen in Norddeutschland Rat, Trost, Hilfe und Begleitung in Zeiten von Trauer. Dazu gehören nicht nur Todesfälle, in denen ein etwa ein Angehöriger oder geliebter Mensch verstorben ist. Sondern auch Fälle wie gescheiterte Beziehungen oder Freundschaften, Verluste durch Gesundheit oder bei der Arbeit, bei geplatzten Träumen und vielem mehr. Auf Wunsch bietet der 54-jährige ausgebildete Theologe und Diakon Klinkhamels gemeinsam mit Ehrenamtlichen Betroffenen Hilfe und Unterstützung an, beispielsweise in individuellen Gesprächen, bei Gruppentreffen oder im regelmäßig stattfindenden Trauercafé. Mein Interview mit Stephan Klinkhamels fand im September 2019 anlässlich der "Trauermonate" Oktober und November mit ihren vielen Gedenktagen statt. / cs

 

Herr Klinkhamels, an Sie als Experten, der im Alltag hauptberuflich mit dem Thema zu tun hat, zunächst die Frage: Was ist Trauer?

Die Frage klingt einfach – und ist doch groß. Trauer ist ein Gefühl, eine Emotion, die Menschen nach einem Verlust ergreift. Es gibt viele Anlässe im Leben, zu trauern. Das kann der Tod des langjährigen Ehepartners sein. Aber auch das Ende einer Beziehung, sei sie auch manchmal kurz. Nicht selten sind auch Fälle, in denen selbst nahe Partner plötzlich verschwinden. Das spielt nicht unbedingt eine Rolle. Manche, oft ältere Menschen leiden auch lange um ihr verstorbenes Haustier. Und dann haben wir zurzeit viele Menschen unter uns, die als Geflüchtete einen besonderen Trauerprozess durchleben, weil sie ihre Heimat aufgegeben haben.

 

Wie begegnen Sie Trauerenden?

Ein Patentrezept gibt es nicht. Jeder Trauer ist anders. Jede Trauer ist individuell. Man spricht ja nicht umsonst von Trauerarbeit – dies impliziert bereits, dass trauernde Menschen meist einen schmerzhaften Prozess durchleben. Wichtig ist zunächst, sich über die Ausnahmesituation bewusst zu werden und eigene Stärken und Wege zu finden. Ich sage Trauernden im Gespräch gern: Nicht ich bin der Experte – der Spezialist für ihre Trauer sitzt mir gegenüber.

 

Was meinen Sie damit?

Ich kann nur Denkanstöße geben und Vorschläge machen. Ich schwenke sozusagen den Schweinwerfer auf die aktuelle Lage der Betroffenen anders, um ihnen nach Möglichkeit ein neues Bild zu geben. Denn was Trauerende meist nicht sehen ist das, was sie leisten: Nach dem Tod eines Partners kümmern sie sich beispielsweise meist um die ganze Bürokratie – das reicht von der Planung und Organisation der Beerdigung bis zum Stellen von Rentenanträgen oder Kontakt mit anderen Behörden, Ärzten und Institutionen. Dass dies eine eigene Leistung ist, vermögen viele gar nicht zu sehen und zu schätzen.

 

Können Sie dies vielleicht in einem Bild ausdrücken?

Ich vergleiche den Trauerweg gern mit einem Marathonlauf: Ausdauersportler finden an ihrer Laufstrecke regelmäßige Verpflegungsstationen. Mal erhalten sie links oder rechts der Strecke Wasser, mal Bananen oder Energieriegel. Ähnlich unterstütze ich Trauernde in den Wochen oder Monaten nach einem Verlust darin, das am Wegesrand ihres Trauerwegs sehen zu können, was ihnen guttut. Das kann eine Blume sein, die einem auffällt. Oder ein Schmetterling. Kleine Dinge, aber auch spontane Begegnungen und Gespräche mit netten Menschen.

 

 

Trauer und Trauerarbeit sind ein zentraler Aspekt im Beruf von Diakon Stephan Klinkhamels. Foto: C. Schumann, 2019
Trauer und Trauerarbeit sind ein zentraler Aspekt im Beruf von Diakon Stephan Klinkhamels. Foto: C. Schumann, 2019

Das ist ein guter Hinweis: Haben Sie vielleicht Tipps für Verwandte, Freunde oder Nachbarn?

Nicht wenige Menschen sind verunsichert, wie sie sich Trauernden gegenüber verhalten sollen. Ihnen fällt auf, dass Betroffene verändert erscheinen oder anders reagieren als gewohnt. Sie erzählen mir dann, dass sie zum Beispiel die Straßenseite wechseln, um der Begegnung mit einem trauernden Menschen auszuweichen. Einfach, weil sie verunsichert sind. Mein Tipp ist immer: Statt zu sagen „Ruf mich an“ selbst anzurufen. Aktiv zu werden und nicht abzuwarten. Am besten auch zwei, drei Monate nach einem Todesfall. Denn dann legt sich die administrative Hektik und Trauernde beginnen die Endgültigkeit ihrer neuen Situation oft erst zu erkennen. Kommunikation im Trauerfall ist einfach und schwer zugleich.

 

Und wie lange dauert Trauer?

Trauer beginnt. Wann sie endet und ob sie dies überhaupt tut, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Das kann nach Tagen, Wochen oder Monaten sein. Traditionell gibt es ja das sogenannte Trauerjahr: Es kann helfen zu wissen, dass man ein Jahr nach einem Verlust jeden Tag schon einmal erlebt hat. Diese gemachten Erfahrungen helfen in der Zukunft.

 

Drückt sich denn Trauer immer anders aus?

Ja, denn so wenig wie ein Mensch dem anderen gleicht, ist eine Trauer wie die andere. Nicht jede oder jeder kann zum Beispiel nach dem Tod eines geliebten Menschen weinen. Ich treffe nicht selten Trauernde, die mir von einem schlechten Gewissen berichten. Sie fragen sich, ob sie den verlorenen Menschen womöglich doch nicht geliebt oder nicht genug geliebt haben. Diese Last versuche ich zu nehmen. Denn meist liegt das Nicht-Weinen-Können schlicht an einem Stau der Gefühle. Wer etwa seinen Ehepartner verloren hat, findet sich plötzlich wie allein auf einer Insel wieder und muss Alltag und Umwelt neu entdecken. Jüngeren gelingt dies erfahrungsgemäß besser als Älteren, die Jahrzehnte miteinander verheiratet waren. Und Enkel können oft mehr um ihre Großeltern als die Kinder um ihre Eltern, weil die Beziehung für sie eng und jung ist.

 

Das klingt paradox …

Nur auf den ersten Blick. Denn für Kinder ist der Tod von Oma und Opa meist die erste Konfrontation mit dem Thema Verlust. Und trotzdem können Erwachsene Kindern viel zum Umgang mit Trauer abgucken: Kinder möchten auch in schwierigen Phasen Freude am Leben haben. Sie möchten mit Freunden spielen, lachen und fröhlich sein. Das heißt nicht, dass sie abends nicht wieder traurig sind und weinen. Sie verbinden beides. Weinen ist erlaubt, aber Lachen auch. Es heißt ja nicht ohne Grund, dass Kinder in eine Trauerpfütze springen, Große aber in einen Trauersee.

 

Kann Religion im Trauerfall trösten?

Menschen mit einem Glauben an Gott, welcher Religion sie auch angehören, ob Christen, Muslime oder Juden, vermögen oft einfacher mit dem Tod umzugehen. Sie sind gefestigter, weil für sie mit dem Fortgang eines Menschen nicht alles definitiv zuende ist. Dennoch schmunzle ich immer ein wenig, wenn Betroffene zu mir kommen und sagen, sie glaubten an nichts und gleichzeitig davon erzählen, dass sie zum Beispiel nach dem Tod ihres Mannes oder ihrer Frau regelmüßig mit ihm oder ihr im Dialog sind. Dies zeigt mir jedes Mal wieder, dass in allen Menschen das tiefe Bedürfnis steckt, das mit dem Tod nicht alles vorbei ist. Wie auch immer es dann weitergeht. Natürlich haben Christen da eine konkrete frohe Botschaft und einen Erlöser, auf den sie sich beziehen können. Gläubige können mit erhobenem Kopf durch die Welt gehen und ihre Zuversicht weitergeben. Wie gut dies im Einzelfall gelingt, ist eine andere Frage.

 

Hoffnung und Begegnung in der Trauer also.

Ja. In Trauerfällen erfahre ich immer öfter, dass Menschen in Trauerhaushalten offener und empfänglicher für Neues sind, als diejenigen, die im Alltagstrott marschieren. Sie erleben eine extreme Situation, die oft so widersprüchlich wirkt. Doch gerade in der Trauer darf etwa beim Gedanken an einen Verstorbenen auch ein Lächeln aufs Gesicht huschen – es ist auch dann nicht alles nur schwer. Meine besondere Vision ist, dass ich Trauernde und Nicht-Trauerende viel öfter und intensiver begegnen. In unserer Gesellschaft müssen wir Trauer und Tod wieder mehr als normal und Teil unseres Lebens und Alltags erkennen.

 

Copyright Interview und Fotos: Christoph Schumann, Hamburg.