Von Christoph Schumann
REPORTAGE Hamburg. Seit Montag steht fest, dass die Impfungen gegen das Coronavirus hierzulande unmittelbar nach Weihnachten beginnen können. Doch je näher der Impfstart rückt, umso größer scheint auch die Skepsis gegenüber der Impfkampagne zu werden. Wollten sich laut Umfragen im Frühjahr auf dem Höhepunkt der ersten Welle noch rund 70 Prozent aller Deutschen auf jeden Fall gegen SARS-CoV-2 impfen lassen, sank die Zahl zuletzt auf um die 50 Prozent und darunter. Wie geteilt Deutschland in der Frage nach der Corona-Impfung ist, belegt auch eine vor wenigen Tagen veröffentlichte repräsentative Umfrage einer bekannten Versicherung. Danach wollen sich von mehr als 2000 Befragten sogar nur rund 36 Prozent auf jeden Fall schützen lassen. Auffällig dabei ist der mit 43 Prozent höhere Anteil der Männer, die sich für eine Impfung aussprechen, im Vergleich zu lediglich 31 Prozent der Frauen.
Einen besonders großen Zuspruch erfährt die Impfung auch unter älteren Menschen ab 55 Jahren: 46 Prozent in dieser Altersgruppe planen, sich gegen das COVID-19-Virus impfen zu lassen. Interessant scheint auch, dass die 18- bis 24-Jährigen mit 25 Prozent Zustimmung eher bereit sind, sich impfen zu lassen, als die 25- bis 34-jährigen mit 22 Prozent. Immerhin 27 Prozent der Befragten sind in Sachen Corona-Impfung noch unentschlossen – vor allem Frauen zeigen sich mit 31 Prozent besonders unentschieden. Und: Ein Viertel der Umfrageteilnehmer schließt es generell aus, sich gegen das neuartige Virus impfen zu lassen. Auch hier liegen die Frauen mit 29 Prozent vor den Männern mit 22 Prozent.
Infektionskrankheiten heute fast verschwunden
Philipp Osten wundern diese Zahlen nicht. Der Direktor des Medizinhistorischen Museums Hamburg weiß, dass es fast ausnahmslos am Anfang jeder Impfkampagne der rund 200-jährigen Geschichte der modernen Seuchenbekämpfung teils massive Widerstände gegeben hat. „Heute sind in allen Industriegesellschaften die meisten lebensbedrohlichen Infektionskrankheiten aus dem Alltag verschwunden“, sagt Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Eppendorf im Gespräch mit unserer Zeitung. „Aber noch vor 200 Jahren war das Bild ganz anders: Infektionskrankheiten wie die Pocken zogen etwa im Abstand von fünf Jahren durchs Land und rissen bis zu 20 Prozent der Kinder in den Tod.“ Erst durch flächendeckende Impfungen der Kinder konnten Infektionskrankheiten wie Pocken, aber auch Diphtherie, Tuberkulose, Cholera oder Masern effektiv bekämpft werden. Anfang des 18. Jahrhunderts fanden die ersten Pockenimpfungen mit lebenden Pockenviren statt, so Professor Osten: „Man nahm das Serum erkrankter Kinder mit einem leichten Verlauf und impfte andere Kinder damit.“ Doch obwohl der Erfolg sichtbar war – nach einer der sogenannten Lebendpockenimpfung starben nur noch fünf Prozent der Kinder –, gab es große Impf-Debatten in der Bevölkerung. Zum einen, weil erst ab etwa 1880 mit der Herstellung geprüfter Impfstoffe zuvor oft ungewollt mit übertragene Krankheiten wie Sexualkrankheiten ausgeschlossen werden konnten. Zum anderen, da die Impfung von staatlichen Impfärzten durchgeführt wurde – und man mit ihr gleichzeitig einen Impfschein erhielt, also systematisch erfasst wurde.
Dies war ähnlich schon bei den ersten offiziellen Pockenimpfungen 1808 in Bayern so, sagt Philipp Osten. „Die Behörden legten damals Impflisten an, die man aus den Taufregistern übernahm, also von Pfarrern und Pastoren stammten.“ Die Geistlichen waren in der Regel die einzigen Vertreter der Obrigkeit, mit denen Menschen insbesondere auf dem Land in Kontakt kamen. Diese Listen habe man Ärzten übergeben, die öffentlich angestellt waren. „So hat er Staat seine Untertanen quasi erstmals komplett erfasst, quasi von Kinderbeinen an. Diese konnte man dann auf Basis der Impflisten beispielsweise später systematisch zum Militär verpflichten – und tatsächlich haben viele dieser Kinder nachweislich später in die Napoleonischen Kriege ziehen müssen“, so der Medizinhistoriker. Dass die Kindersterblichkeit durch die endemisch vorkommende Erkrankung durch Pocken massiv sank, an der um 1800 alljährlich in Europa um die 400.000 Menschen starben, und die Lebenserwartung steigt, konnte die Kritiker nicht überzeugen. Denn hinzu kam bei der Impfgegnerschaft die Angst gegen mögliche Folgen des Impfens: „Die Kinder wurden bei der Pockenimpfung geritzt – eine Vorstellung, die nicht sehr schön ist“, so Osten. Dazu stammten die verwendeten Pocken von Kühen. Und: Die Impfung gegen Pocken war einerseits staatlich angeordnet und der Kontakt mit einem Impfarzt meist der erste Kontakt weiter Bevölkerungskreise mit einem Mediziner überhaupt. Osten: „Dazu war es nicht selten die erste Begegnung mit einer Obrigkeit abseits der Kirche.“ Und alles, das mit Zwang in Verbindung stehe, rief und rufe Misstrauen hervor. Noch bis in die 1970er Jahre habe es in Westdeutschland eine gesetzliche Impfpflicht gegen Pocken gegeben, dann setzte man in Sachen Schutzimpfung zunehmend auf Freiwilligkeit. In der DDR dagegen wurden Gesunde pflichtgemäß bis zu 20 Mal geimpft, auch gegen Kinderlähmung, Tetanus, Keuchhusten, Tuberkulose oder Masern.
Impfskepsis seit dem Kaiserreich und länger
Generell sei eine Impfpflicht immer mit Verschwörungstheorien verbunden, so Philipp Osten weiter. „Das kennen wir schon aus dem Kaiserreich. Schon damals vor etwa 100 Jahren verfassten viele Autoren Schriften gegen Impfungen, die normalerweise keine Bücher schrieben“, erklärt der Experte. Das war zu einer Zeit, als alle Impfungen bereits streng überwacht werden und jede Komplikation gemeldet werden musste. Doch damals wie heute sei Impfgegnerschaft eher eine Frage der Weltanschauung, so Osten: „Da stellt sich dann bei manchen Menschen der Eindruck ein, Wissenschaft und Medizin spiele sich mit höherem Wissen auf. Wie zum Beispiel die sogenannten Querdenker opponieren einige gegen die Intellektuellen.“ Dabei zeige gerade die Ausrottung der einst so verheerenden Pocken, wie sinnvoll Impfungen sein können. Eine Impfpflicht seit auch im Fall der Coronaschutzimpfung nicht geboten, so der Hamburger Forscher. „Wir müssen vielmehr überzeugen“, appelliert Osten. Während etwa bei Masern eine Impfquote von 92 Prozent der Bevölkerung nötig sei, genügten bei Covid-19 vermutlich 60 bis 70 Prozent, um eine Herdenimmunität zu erzielen. Dann seien diejenigen vor dem Virus geschützt, die aufgrund einer Vorerkrankung selbst nicht geimpft werden können, auf den „Herdenschutz“ aber dringend angewiesen seien. Und letztlich seinen auch Impfgegner, egal ob aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen, dadurch geschützt, wenn auch durch die Impfbereitschaft der anderen. „Diesen unausgesprochenen gesellschaftlichen Vertrag muss man viel stärker öffentlich betonen“, unterstreicht Philipp Osten. „Man kann nicht oft genug sagen: Jeder Einzelne lässt sich nicht für sich selbst impfen, sondern für die anderen, für schwache und kranke Menschen.“ Mit dieser Überzeugungskraft könne man eine große Mehrheit erreichen.
Copyright Text, Idee und Fotos: Christoph Schumann, Hamburg, Dezember 2020