
REPORTAGE
Hamburg (cs). Sune Haubek ist ein Schiff-Spotter. Fast jeder Tag beginnt für den 54-jährigen mit einem ersten Blick aufs Handy, um die App VesselTracker auf Schiffsanläufe zu überprüfen. Für den Dänen ist das Beobachten von Schiffen allerdings kein Hobby, im Gegenteil. Der aus Jütland stammende Theologe ist seit November 2020 Pastor an der dänischen Seemannskirche in Hamburg – und als solcher für das geistliche Wohl der Besatzungen auf allen Schiffen aus seiner Heimat zuständig, die den drittgrößten Hafen Europas anlaufen. „Eigentlich sind es nur wenige Schritte hinter zu den Landungsbrücken und zur Kaikante“, sagt Sune Haubek zu seinem möglichen Arbeitsweg. Denn mit ihrer Lage an der Ditmar-Koel-Straße im Schatten der berühmten Hauptkirche St. Michaelis mitten in Hamburg-Neustadt – und in direkter Nachbarschaft zu den skandinavischen Kirchen von Schweden, Finnland und Norwegen – liegt das nordische Gotteshaus „Benediktekirken“ fast direkt am Wasser.
Ständige Zeitnot im Hafen
Doch wo einst die Ozeanriesen an- und ablegten, sind heute nur noch die Hafenfähren zu sehen. Sune Haubek muss darum immer auf die andere Seite der Elbe, wo sich die Terminals von HHLA und Eurogate befinden. „Mein Ziel ist mehrheitlich Eurogate“, sagt der zweifache Familienvater, „da die meisten Schiffe, die unter dänischer Flagge fahren, zur Reederei Mærsk gehören. Und die steuern Waltershof an.“ Für den Seemannspastor und seine beiden Assistenten, die den Jüten seit einigen Monaten bei seinen Aufgaben unterstützen, bedeutet das in der Regel eine mindestens halbstündige Autofahrt von der City durch den Elbtunnel gen Süderelbe. Denn anders als in den Anfangszeiten der Seemannskirchen führt der Weg der Seeleute nur noch in seltenen Ausnahmefällen in die Gotteshäuser – Geistliche wie Sune Haubek besuchen hingegen die Containerfrachter oder Tank- bzw. Bulkcarrier. „Ich muss sehen, wo dänische Schiffe sind“, sagt Haubek, dessen Gemeinde rund 250 feste Mitglieder hat. „Früher lagen Boote oft eine Woche oder länger im Hafen. Da blieb den Seeleuten trotz Be- und Entladung immer Zeit für einen Besuch an Land“, so Haubek. „Dagegen sind es heute maximal drei Tage. Und die sind voller Stress mit organisatorischen Aufgaben wie Zollabwicklung, Arztbesuchen, Proviantierung und anderem mehr.“ Hatte man einst im Hafen frei und an Bord immer zu tun, ist es heute umgekehrt.


Keine Zeit für Kirchenbesuch und Kaffee
Dass sich das Leben der Besatzungen komplett verändert hat, bestätigt auch Thomas Sletting Hvilborg. „Als ich vor mehr als 30 Jahren bei Mærsk anfing, war es noch so, dass auch bei Landanläufen etwas Freizeit blieb“, sagt der 51-jährige Däne, der Kapitän auf der „Antonia Mærsk“ ist, einem der modernsten Schiffe der Flotte mit Methanol-angetriebenem Motor. „Ich erinnere mich noch gut an meine Anfänge auf See. Da war es zum Beispiel in Hongkong so, dass ich zuerst in die Seemannskirche auf eine Tasse Kaffee gegangen bin. Man wusste, dass dort andere Seeleute aus der Heimat waren. Mit denen konnte man sich mal treffen, etwas reden und austauschen. Man ging ganz selbstverständlich dorthin und grüßte kurz mal den Seemannspastor.“ Diese Zeiten seien wohl unwiderruflich vorbei, so Sletting, der derzeit meist auf der Route zwischen Fernost und Europa fährt. Es sei weder so einfach noch so selbstverständlich wie damals, eine Seemannskirche zu besuchen. „Man ging ja nicht zuletzt auch dorthin, um nach Hause zu telefonieren“, erinnert sich Sletting. „Heute gibt es auf allen Schiffen Internet, da ist jeder jederzeit erreichbar.“ Nicht zuletzt lägen die meisten Containerterminals heute weitab von allen Städten oder Innenstädten. „In China beispielsweise kommen wir gar nicht mehr an Land, weil die Liegeplätze weit draußen sind.“ Das Gleiche gelte für die meisten europäischen Häfen, so Sletting: „Wenn wir etwa in Rotterdam fünf, sechs Stunden Freitzeit haben, können wir nicht drei Stunden Fahrzeit opfern. Das lohnt sich einfach nicht.“
Mehr Freizeit- und Multifunktionshaus statt Kirche
Das ist auch ein Grund, warum das Netz der 1867 in Kopenhagen ins Leben gerufenen „De danske Sømandskirker“ von einst 24 rund um den Globus auf nun nur noch sechs Gotteshäuser und einen sogenannten Seemannsclub geschrumpft ist. Und auch der Name der Institution passte sich im Lauf der Zeiten den geänderten Anforderungen über „Danske Sømands- og Udlandskirker“ (Dänische Seemanns- und Auslandskirchen) auf neuerdings „Den Danske Kirke i Udlandet“ (Die dänische Kirche im Ausland) an. Denn die zur evangelisch-lutherischen dänischen Volkskirche, Folkekirken, Gemeinden sind mit Angeboten und Aktivitäten wie Konzerten, Film- oder Fernsehabenden, Veranstaltungen für Ältere, Familien oder junge Mütter oder in Hamburg auch dem beliebten alljährlichen Weihnachtsmarkt längst ebenso Anlaufstelle und Ort des Zusammenhalts für „Exil“-Dänen wie für dänische Seeleute auf großer Fahrt. Gleichzeitig bedeutet der immer kürzere Landgang der Schiffe, dass auch Sune Haubeks Arbeitswege immer länger werden: Seit vergangenem Jahr zählt auch der Hafen in Bremerhaven zum Betreuungsgebiet des Pastors: „Dort laufen immer mehr dänische Containerfrachter an, also müssen wir dort sein zeigen.“ Auch wenn dies zwei- bis dreistündige Autofahrten mehrmals im Monat zusätzlich bedeutet.

Nur noch teilweise Pastor
„Mein Alltag ist wirklich anders als üblich – ich bin nicht immer nur Pastor“, fasst Haubek zusammen. So habe es im letzten Jahr in der Benediktekirken in Hamburg zum Beispiel nur vier Konfirmanden, vier oder fünf Taufen, eine Beerdigung und gar keine Hochzeit gegeben. „Und auch die Seeleute suchen bei mir nur in Ausnahmefällen seelsorgerischen Rat, bei dem es dann oft ums Alleinsein und Einsamkeit geht“, so Sune Haubek. „Genauso oft wenn nicht öfter helfen wir mit praktischen Dingen: Im Advent haben wir beispielsweise kürzlich Weihnachtsgeschenke gekauft, die einige Besatzungsmitglieder ihren Liebsten schenken wollten. Dafür haben sie ja keine Zeit. Und neulich hatte ich auch den Kofferraum voll mit einem Supermarkteinkauf. Das ist zwar nicht meine Kernaufgabe, aber ich tue es gern und unterstütze die Seefahrer nach Kräften. Wir sind ohne diesen extremen Zeitdruck.“
Deshalb ist Seemannspastor Haubek überzeugt: „So lange es dänische Seeleute auf den Weltmeeren gibt, wird es dänische Kirchen im Ausland geben.“ Der Branchenverband Danske Rederi schätzt ihre Zahl auf Nachfrage aktuell auf 1500. Stellvertretend von ihnen unterstreicht Thomas Sletting: „Ich denke auch nicht, dass die dänischen Kirchen verschwinden. Sie stehen schließlich allen offen. Sie missionieren auch nicht, sondern dienen dem sozialen Zusammenhalt. Das überzeugt auch unseren jungen Nachwuchs.“ Auch die Benediktekirke in Hamburg werden es deshalb ganz sicher „morgen und in zehn Jahren“ noch geben, so Sune Haubek.
HINTERGRUND
150 Jahre dänische Seemannkirche in Hamburg
Im Herbst 2025 kann die dänische Seemannskirche an der Elbe ein rundes Jubiläum feiern: Genau 150 Jahre dann her, dass in Kopenhagen der Entschluss zu einer Dependance in Hamburg fiel. Das erste Kirchenbuch der heute in der Dietmar-Koel-Straße im sogenannten Portugiesenviertel ansässigen Gemeinde ist auf den 1. Oktober 1875 datiert. Ihr großes Geburtstagsfest mit Gottesdiensten, Konzerten, Vorträgen u.a. wird die „Benediktekirken – DanskSømandskirke“, die aufgrund ihrer filigranen Nachkriegsarchitektur von 1952 unter Denkmalschutz steht – darum voraussichtlich auch erst Anfang Oktober feiern – die Planungen von Pastor Sune Haubek laufen. Ob Dänemarks König Frederik 10. den feierlichen Anlass zu einem Besuch in Hamburg-Neustadt nutzt, steht noch nicht fest. Fest steht aber, dass in den kommenden Monaten u.a. mithilfe von Spenden und gefördert durch die dänische Stiftung A.P. Møllerske Støttefond sowohl der Innenraum wie der Glockenturm des 1952 erbauten Gotteshauses renoviert werden. Darüber hinaus erscheint ein neues Buch zur bewegten Geschichte der dänischen Kirche in der Hansestadt. www.dankirke.de
Recherche meiner Reportage und Fotos: Winter/Frühjahr 2025
