
REPORTAGE Hamburg (cs). Nackt steht der ICE mit der Nummer 9018 und dem Namen „Freistaat Bayern“ in der riesigen Halle, während seine Bugnase vorsichtig an zwei Haken zur Hallendecke gehoben wird. Drei Techniker dirigieren die schwebende, große Front des ICE 4. Ohne Scheinwerfer und Abdeckung wird der direkte Blick auf Kupplung, Puffer, Kabelanschlüsse und Hupe frei. „Die Bugnase des Zuges ist aus glasfaserverstärktem Kunststoff und wurde bei einem Wildunfall beschädigt“, erklärt Bernhardt Richter. Und zeigt auf ein Ersatzteil, das am Kopfende des Montagegleises bereits zum Austausch bereitliegt und in wenigen Minuten an die Stelle der alten Abdeckung gesetzt wird.
Zügig und fokussiert müsse es in der mehr als vierhundert Meter langen Halle des Instandhaltungswerks in Hamburg-Langenfelde zugehen, sagt der Teamleiter für Spezialaufgaben im ICE-Werk Hamburg-Langenfelde der Deutschen Bahn (DB). Denn jeder Zug müsse je nach Serviceumfang bereits nach bis zu vier Stunden wieder in den regulären Fahrplaneinsatz zurück. Gearbeitet wird in der Halle auf bis zu fünf Gleisen gleichzeitig, an sieben Tagen in der Woche, vierundzwanzig Stunden in drei Schichten. Während meines Besuchs arbeiten über sechzig Mitarbeiter an drei ICE 4-Zugpaaren parallel.
Dabei erlebt man eine geschäftige, aber ruhige Atmosphäre in der großen Halle – dass bei meinem Besuch mehr als sechzig Mitarbeiter an drei ICE 4-Zugpaaren parallel im Einsatz sind, ist kaum zu hören. „Wir arbeiten konzentriert und ruhig“, klärt mich Bernhardt Richter auf. Der 43-Jährige ist seit mehr als zwanzig Jahren bei der Bahn und vom Energieelektroniker zum Teamleiter im Instandhaltungswerk für die neueste Generation der Schnellzugflotte aufgestiegen, das deutschlandweit eines von insgesamt neun ICE Werken des DB Fernverkehrs ist. Hamburg ist dabei das sogenannte Leitwerk für ICE 4 und ICE 1.

Spezialisten für die neuesten ICE
Schon seit den 1940er Jahren dreht sich im Hamburger Nordwesten auf etwa vier Kilometern Länge alles um die Bahn: Seit den 80igern wurden im Werksteil Langenfelde die Reisezugwagen der damaligen Bundesbahn gewartet. Auf dem Gelände des Werks Eidelstedt baute die Bahn dann Anfang der 90iger Jahre ein komplett neues Werk für die Instandhaltung des ersten DB-Hochgeschwindigkeitszugs, dem ICE 1. Heute wird in beiden Werksteilen in Eidelstedt und Langenfelde gemeinsam die jüngste ICE-Generation instandgesetzt. „Wir sind hier Spezialisten für das, was wir den ›Boxenstopp‹ unserer langen ICE 4 nennen, die das Rückgrat der ICE-Flotte bilden“, so Bernhardt Richter. Unter den rund 1200 „Instandhaltern“ im Bereich Fahrzeugtechnik, wie sich die zur Konzerntochter DB Fernverkehr gehörenden Experten nennen, sind Industriemechaniker, Mechatroniker, Elektroniker, Handwerker und andere Berufe. Die zu wartenden Züge holen sogenannte Umsetzer am Hamburger Hauptbahnhof oder in Altona ab, bringen diese in die Werke und übergeben sie nach jeder Instandhaltung wieder zurück. „Zwischen den einzelnen Fahrten der Züge liegen feste Wartungen, die Punkt für Punkt abgearbeitet werden müssen“, so Richter.
Regelmäßige Inspektionen für Sicherheit und Sauberkeit
So durchläuft jeder ICE 4 im Schnitt alle zwei Wochen nach 25.000 Kilometern eine zweistündige Inspektion, die Nachschau genannt wird. In deren Rahmen werden beispielsweise die Radsätze, Bremsen, Fahrmotoren und die Stromabnehmer kontrolliert. „Hinzu kommen das Beheben von Problemen wie etwa defekte Türen oder Defekte in der Bordküche oder an der Klimaanlage“, weiß Kenner Richter. „Diese werden uns von den Zugführern immer schon vorab elektronisch übermittelt.“ Nicht selten sind auch Sensoren defekt, die für Kummer sorgen – bei tausenden Kilometern Kabelverbindungen zwischen den bis zu dreizehn Zugteilen wird die Fehlersuche oft schwierig.
Im Schnitt alle zwei bis drei Monate nach 100.000 Kilometern folgt die erste Große Inspektionsstufe, diese wird Frist genannt. Sie dauert zweimal je acht Stunden und umfasst unter anderem eine Bremsrevision, die Kontrolle von Sitzen, das Fahrgastinformationssystem und vieles mehr. Nach 300.000 Kilometern Laufleistung werden dann alle Räder mit Ultraschall kontrolliert. „Sicherheit geht immer vor Einsatz und steht an erster Stelle“, erläutert Werksleiter Raphael Bayer. „Unsere Aufgabe ist es, unseren Kunden eine maximal sichere Reise zu ermöglichen.“ Nach 1,2 Millionen Kilometern oder sechs Jahren Laufzeit steht dann auch die große Revision an, „sozusagen ein sehr detaillierter TÜV über mehrere Tage“, erklärt der 54-Jährige. „Die Züge sollen ja auch möglichst lange reibungslos fahren. Der ICE 1 etwa bleibt noch viele Jahre Teil unserer Hochgeschwindigkeitsflotte – und das schon jetzt mit Laufleistungen bis zu achtzehn Millionen Kilometern.“
„Wir lernen mit dem Zug“
Damit die ICE 4-Züge ganzjährig und bei Temperaturen zwischen minus 30 Grad bis plus 45 Grad Celsius fahren, durchlaufen sie in Langenfelde zweimal im Jahr eine Sommer- bzw. aktuell eine sogenannte Winterfestmachung. Dabei werden die Züge fit für den jeweiligen Jahresabschnitt gemacht. Im Sommer müssen die Klima- und Kühlanlagen gut funktionieren, im Winter die Heizungen. „Dabei wechseln wir zum Beispiel auch alle Schrauben am Dach und alle Filter für die Klimaanlage aus, denn Material arbeitet ja. Wir schauen verstärkt auf Flüssigkeiten, Stromabnehmer oder Bremsen“, sagt Bernhardt Richter. Nicht alle potzentiellen Fehlerquellen des immer noch jungen ICE 4 kenne man bereits, so Richter: „Wir lernen mit dem Zug. Aber wir lernen schnell und intensiv, sodass uns in Hamburg immer wieder Kollegen aus dem ganzen Bundesgebiet in schwierigen Fällen um Rat fragen, wenn sie bei der Diagnose nicht weiterkommen.“
Die technische Wartung bzw. Instandhaltung erfolgt unabhängig bzw. teils zeitlich parallel zur Reinigung: Dafür kümmern sich eigene Teams von DB Service ums Leeren und Putzen der Toiletten, Auffüllen von Frischwasser, Abfallentsorgung, Säuberung der Sitze und vieles mehr. Auch mögliche Graffiti werden während der Standzeit im Werk entfernt. Auch eine Außenwäsche erhalten die ICEs in regelmäßigen Abständen: Dafür steht in Langenfelde gleich gegenüber der Instandhaltungshalle eine überdimensionale Waschanlage bereit. Nach einer bis vier Stunden ›Boxenstopp‹ gehen die Hochgeschwindigkeitszüge dann wieder raus in den Einsatz. „Jeder Zug geht bei uns ›grün‹ raus“, sagt Raphael Bayer zum internen Kontrollverfahren – und meint, dass alle Mängel behoben und die Waggons sicher und sauber zwischen Hamburg und München, der Schweiz oder zu anderen Zielen auf die Strecke gehen. So wie beim ICE „Freistaat Bayern“, der mit erneuerter Bugnase in wenigen Minuten Langenfelde Richtung Hamburg Hauptbahnhof verlassen wird.
Umfassende Ausbauten am DB-Werk spaltet Nachbarn
Um den kommenden technischen Anforderungen gerecht zu werden und um neue Züge wie den kommenden „ICE L“, den die Bahn beim spanischen Hersteller als Ersatz für die alten Intercity-1-Züge bestellt hat, warten zu können, wird sich Areal zwischen Langenfelde und Eidelstedt in Kürze umfassende Neuerungen erfahren. Rund 100 Millionen Euro wird die Bahn in weitere Abstell- und Servicekapazitäten investieren. So werden in Eidelstedt zwei Anlagen für zusätzliche ICE-Boxenstopps - plus Service- und Reinigungsarbeiten – außerhalb der Werkshalle entstehen. Die neuen Anlagen sind laut Bahn vor allem erforderlich, um der wachsenden Fernverkehrsflotte am wichtigen Knotenpunkt im Norden gerecht zu werden und Züge in (noch) kürzerer Zeit sauber und sicher bereitzustellen. „Immerhin wird unsere ICE-Flotte bis Ende des Jahrzehnts auf insgesamt rund 450 Züge wachsen“, sagt Bahnsprecher Tim Cappelmann. Im Einzelnen bedeuten die Pläne: Am Standort Langenfelde wird die Anlage um sieben weitere Gleise mit einer Länge von je 400 Metern erweitert.
In Eidelstedt entstehen zwei ICE-Boxenstopp Anlagen mit insgesamt zwölf Gleisen, jeweils ebenfalls mit einer Länge von 400 Metern. In Eidelstedt wird darüber hinaus ein neues Stellwerk gebaut. Die betroffenen Anwohner allerdings sind von den Bahn-Plänen nicht begeistert: Rund 100 Bürger, die in den hauptsächlich betroffenen Stadtteilen Halstenbek – der größte Teil der neuen Anlage mit unter anderem acht Abstellgleisen wird auf Halstenbeker Gebiet entstehen – und Krupunder leben, haben bereits Einwendungen gegen das Projekt eingereicht. Sie befürchten angesichts des Rund-um-die-Uhr-Betriebs vor allem nachts zusätzliche Lärmstörungen. Ein Erörterungstermin zwischdn Eisenbahnbundesamt, Anrainern und ihrem Anwalt blieb im Sommer ohne Kompromiss. Die Bahn möchte in ihrem Zeitplan bleiben und die benötigte Fläche ab Oktober bis Februar nächsten Jahres roden. Im Anschluss soll der Bau der neuen Gleisanlagen starten. Die Inbetriebnahme der ICE-Abstellanlagen ist für 2026 geplant.

HINTERGRUND
Der ICE 4 in Kürze
Seit März dieses Jahres ist die ICE 4-Flotte der Bahn komplett: Der ICE „Spree“ ist als 137. Zug der letzte seiner Generation. Seit 2016 hat der Hersteller Siemens Mobility den
Hochgeschwindigkeitszug in drei unterschiedlichen Varianten gebaut – insgesamt über 1.500 Wagen mit rund 105.000 Sitzplätzen. Die Kosten dafür betrugen laut Bahn rund sechs Milliarden Euro. Die
ersten ICE 4-Züge – auch ICE 412 genannt – starteten im Dezember 2016 mit bis zu 265 km/h zwischen Hamburg und Stuttgart beziehungsweise München. Seit Ende 2018 verkehren die ICE 4-Züge auch
zwischen Berlin und München sowie zwischen Hamburg und München über NRW und auf der Linie Köln–Rhein/Main. Seit Ende 2019 geht es per ICE 4 auch von Berlin und Hamburg in die Schweiz. Seit
Dezember 2020 kommen die Züge unter anderem auch auf der ICE-Linie zwischen Köln und Berlin zum Einsatz. Und auf der Strecke Frankfurt/Main–München–Salzburg–Klagenfurt sind die ICE 4 seit
Dezember 2023 zu finden.
Stand meiner Recherche und Reportage: Herbst 2024. Copyright für Text und alle Fotos: Christoph Schumann, Hamburg