Gastlichkeit in Ruhpolding: Vom „windigen“ Zufall zum Kaffeehausklassiker

Der Windbeutel-Klassiker: ein „Lohnengrin-Windbeutel“. Foto: Christoph Schumann, 2020
Der Windbeutel-Klassiker: ein „Lohnengrin-Windbeutel“. Foto: Christoph Schumann, 2020

Von Christoph Schumann

 

REPORTAGE Ruhpolding. Helmut Stemmler ist die Windbeutelgräfin. Genauer gesagt: Nachfolger der Windbeutelgräfin. Keine Frage, der bayerische Gastronom führt eines der legendärsten Gasthäuser im Freistaat. Und eines der ungewöhnlichsten. Denn im Kaffeehaus „Die Windbeutelgräfin“ am Ortsrand von Ruhpolding dreht sich fast alles nur um eine Spezialität: hausgemachte Windbeutel. Die hausgemachten Versuchungen gibt es in nicht weniger als dreizehn Variationen. Dass die heute legendären Windbeutel heute weit über das Chiemgau hinaus bekannt sind, war eigentlich ein Zufall.

Und der kam so: „Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Überlegungen, das Haus als Kinderheim oder Pferdegestüt zu nutzen“, erzählt Helmut Stemmler. Denn der 1729 erstmals erwähnte Mühlbauernhof mit seiner bunten Lüftlmalerei auf der Fassade bot neben seiner idyllischen Lage mit Alpenblick reichlich Platz. 1949 aber übernahm die zugezogene Frau Richardis von Somnitz das Anwesen, um in den armen Nachkriegsjahren ihr Glück mit einem Café zu versuchen. „Nur backen konnte die wohl aus besserem Haus stammende Dame gar nicht“, so der Endfünfziger. Eines Tages erschien ein Gast, dessen Lieblingskuchen Windbeutel waren. „Nur konnte meine Vorvorgängerin sie gar nicht machen“, weiß Stemmler. „Die Gute nahm viel zu viel Teig und heraus kam ein riesengroßer, allerdings unwiderstehlich leckerer Windbeutel.“ Ein Windbeutel in XL sozusagen. Was Marketingexperten von heute neidisch machen würde, war ein echter Zufallserfolg: Schon bald erhielten Erfinderin und Café den anfangs ironisch gemeinten Titel „Windbeutelgräfin“. Davon kann längst keine Rede mehr sein. Und die tellerfüllenden Teiggebilde sind noch heute das Aushängeschild des Familienbetriebs.

 

Bis in die 1970er Jahre führte die glückliche Gründerin das Ausflugscafé. Helmut Stemmler trat vor sechs Jahren gemeinsam mit seiner Tochter Stefanie in die Fußstapfen der Vorgängerfamilie Grill, bei der der gelernte Koch als Oberkellner lange gearbeitet hatte. 2014 wagte der Bayer den Sprung in die Selbständigkeit, den er bis heute keinen Tag bereut hat. Und das, obwohl jeder Tag früh beginnt. Denn schon um kurz nach vier Uhr steht Stemmler immer in der Backstube, um frischen Teig zu rühren. „Im Grunde sind Windbeutel einfach zu machen“, sagt Stemmler, während er in der kleinen Küche kleine Teighaufen in Fünferreihen auf dem Backblech verteilt, „nur beim Abbrennen muss man immer vorsichtig sein.“ Das ist der Moment, in dem Wasser mit Butter und Salz zum Kochen gebracht werden, um schließlich mit gesiebtem Mehl verrührt zu werden. So bildet sich ein Teigkloß, der nach dem Abkühlen mit reichlich Ei zu einer zart-weichen Masse wird. Etwa eine Stunde müssen die Brandteigkrapfen backen, um auf die dreifachen Größe aufzugehen und goldbraun zu werden.

Rund 300 Windbeutel kommen im Café täglich auf die Teller, etwa 60.000 im Jahr. Mal mit Ananas oder Erdbeeren, mal mit Likör und Schlagrahm, mal herzhaft mit Lachs und Salat. Der echte Klassiker aber wird mit ungesüßter Sahne und Sauerkirschen serviert. Alle werden in Schwanenform als „Lohengrin-Windbeutel“ serviert. Lohengrin? „Der legendäre Bayernkönig Ludwig II. war Wagner-Fan“, sagt Stemmler. „Das übertrug sich irgendwann auf unsere Kreationen.“ Die Beliebtheit der „Lohengrin-Windbeutel“ überdauerte jedenfalls Jahrzehnte und Generationen – mehr als 2,9 Millionen Windbeutel wurden bereits verspeist, jeder einzelne durchnummeriert. Gern auch von Stars und Sternen aus Sport, Film oder Musikwelt wie Biathlet Fritz Fischer, Eiskunstläuferin Kathi Witt, Koch Johann Lafer, Sänger Rudolf Schock oder dem unvergessenen Chris Howland. Windbeutel Nummer Dreimillionen wird voraussichtlich im Sommer nächsten Jahres Stemmlers Backstube verlassen. Und das sicher in traditioneller Form und Zubereitung: „Unsere Windbeutel sind zwar lactosefrei, aber vegan kann ich sie nicht herstellen“, sagt der „Windbeutelgraf“, „denn Brandteig ohne Butter – das geht einfach nicht.“

Wie unwiderstehlich die Windbeutel vor der Bergkulisse schmecken, beweist übrigens ein Rekord, der erst im letzten Sommer aufgestellt wurde: Neun Windbeutel hatte zuvor noch niemand verzehrt. Drei aber schon. „Der vierte ist dann gratis“, lacht Stemmler.

 

Und hier geht's lang: Die Windbeutelgräfin, Brander Straße 23, 83324 Ruhpolding, www.windbeutelgraefin.de