„Die vorgesehenen Mittel reichen nicht“ – der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller im Gespräch zu Schule und Zukunft

Professor Olaf Köller von der Universität Kiel. Foto: Privat
Professor Olaf Köller von der Universität Kiel. Foto: Privat

PORTRÄT Bildung Kiel (cs). Auch die letzten Zahlen waren wieder eindeutig: In der letzten PISA-Studie, die seit rund einem Vierteljahrhundert regelmäßig die Fähigkeiten europäischer Schüler ermittelt, schneiden Jugendliche hierzulande im Lesen und Schreiben, aber auch in Mathematik und Naturwissenschaften generell schlechter ab als noch 2018. Der Trend gilt zwar in vielen OECD-Ländern. Aber bei uns waren laut der vom Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien an der TU Münschen ermittelten Zahlen die Leistungsrückschläge „überdurchschnittlich hoch“, so die Experten. Anders gesagt: Etwa ein Drittel der 15-Jährigen hat in mindestens einem der drei Bereiche nur sehr geringe Kompetenzen. Dabei ist doch gerade die junge Generation der Hoffnungsträger der Zukunft. Einer, der es wissen muss, nett diese Lage sogar dramatisch: „Wenn fast dreißig Prozent unserer 15 Jahre alten Schülerinnen und Schüler zur Risikogruppe in Mathe gehören und weitere fünfundzwanzig Prozent zur Risikogruppe beim Lesen, dann ist das dramatisch“, sagt Olaf Köller im Gespräch mit unserer Zeitung. Damit erfüllten die Lernenden nicht einmal das Mittelstufensoll, so der Professor am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel.

„Wir sprechen immerhin von 200.000 bis 250.000 jungen Menschen – in jedem Jahrgang“, rechnet der Bildungsforscher vor. Wer nicht hinreichend lesen könne oder schwach in Mathe sei, werde es auch mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in einen qualifizierten Ausbildungsberuf schaffen, so der 61-jährige Köller weiter. Schafften sie den Sprung doch, scheiterten viele oft in der Berufsschule. „Damit ginge regelmäßig ein Drittel jedes Jahrgangs für den Ausbildungsmarkt verloren“, sagt Olaf Köller, der seit mehr als dreißig Jahren zum Thema forscht. Das sei noch eine weit erschreckendere Zahl als die der knapp 50.000 jungen Menschen, die ihre Schulzeit laut Bertelsmann-Stiftung alljährlich ganz ohne Schulabschluss verlassen. Dies entspricht einem Anteil von knapp über sechs Prozent – ein Wert der seit fast fünfzehn Jahren stagniert.

 

Dreißig Prozent der Vierklässler können nicht gut lesen

Die Probleme begännen aber weit früher, so der Kieler Professor. „Wir wissen aus Erhebungen, dass rund dreißig Prozent der Kinder nach der vierten Klasse nicht gut lesen können und sogar im Hörverstehen von Deutsch schwach sind“, sagt Köller. Doch gerade die Sprache sei ein zentraler Zugang zu Wissen, Bildung und zum Leben. Hinzu kämen oft nur elementare Kenntnisse in Mathematik oder Arithmetik: „Wer aber später nicht einmal die Grundrechenarten beherrscht oder Kernwissen wie Addition oder Zinsrechnung nicht hat, der wird es auch in einem handwerklichen Beruf schwer haben“, so Köller weiter unterstreicht: „Erschreckenderweise treffen wir auch immer wieder Jugendliche, die nicht einmal eine Vorstellung davon haben, was beispielsweise Zinsen überhaupt sind.“ Wenn aber etwa drei von zehn Kindern nach der Grundschule in die Sekundarstufe kommen, begännen die Probleme sichtbar zu werden: „An weiterführenden Schulen sind die Lehrkräft auf die Vermittlung ihres fachlichen Lernstoffs vorbereitet“, so zu einem erkennbaren Manko, „nicht aber auf die Förderung schwacher Schüler oder auf gezielten Förderunterricht.“ Kommen dann Kinder, die weder richtig lesen noch Kopfrechnen können oder ein grundlegendes Zahlenverständnis haben, seien die Lehrenden in der Regel nicht richtig vorbereitet: „Aufgrund ihres Studiums und ihrer Ausbildung sind die Lehrkräfte verständlicherweise nicht fokussiert auf schwächere Schüler.“ In der Folge wechseln diese entweder die Schule. „Oder man lässt sie durch“, weiß Köller.

 

Positiv: Länder haben Stundenzahl für Mathe und Deutsch erhöht

Gibt es also keinen Grund zu Optimismus für das deutsche Bildungssystem? Doch, sagt der Kieler Forscher und nennt drei Bereiche, die ihm Hoffnung machen. Da sei zum einen der Rechtsansprucb auf Ganztagsbetreuung, der ab dem Schuljahr 2026/27 auch für Grundschulen gilt. Diese gelte zwar zunächst nur für die Erstklässler. „Dennoch kann der Ganztag eine Voraussetzung dafür sein, lernschwache Schülerinnen und Schüler mehr und gezielter zu unterstützen“, so Köller. Dafür müssten die Schulen allerdings den Nachmittag sinnvoll nutzen, etwa um in entspannter Atmosphäre Lesen, Schreiben und Rechnen zu üben. „Mich stimmt auch hoffnungsvoll, dass die Länder die Stundenzahl für Deutsch und Mathematik erhöht haben, also für die Förderung der Basiskompetenzen“, findet Köller. Skeptisch bleibe er allerdings, weil das föderale System mit der Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Schulträgern bzw. den Kommunen als dritter Kraft bei allen Vorteilen eine gezielte Kooperation oft erschwere bis unmöglich mache: „Wir schaffen es beispielsweise bisher nicht, die Verantwortung beim Ganztag für den Vormittag und den Nachmittag in dieselben Hände zu legen“, so Köller. Vormittags seien die Kulturministerien zuständig, nachmittags Sozialministerien oder Schulträger selbst: „An diesem Nebeneinander scheitert die systematische Förderung der Kinder am Nachmittag noch zu oft.“

 

Hoffnung auf Digitalpakt 2.0

Zum anderen setzt Olaf Köller darüber hinaus Hoffnung auf den sogenannten Digitalpakt 2.0, den Übergangsminister Cem Özdemir von den Grünen auch nach dem Auseinanderbrechen der Ampelkoalition in Berlin ab Mitte kommenden Jahres auf den Weg bringen will. „Diesen Impuls brauchen wir im Schulsystem auf jeden Fall“, unterstreicht Olaf Köller. „Die digitale Revolution wird kommen, ja sie ist schon da. Und dafür müssen wir Kinder und Jugendliche früh vorbereiten.“ Geplant waren noch von Özdemirs Vorgängerin Stark-Watzinger 2,5 Milliarden Euro bis 2030, die der Bund den Ländern für die Digitalisierung ihrer Schulen zur Verfügung stellt. Im ersten Digitalpakt hatte Berlin 2019 6,5 Milliarden Euro für Laptops, digitale Tafeln und mehr im Bildungsetat freigemacht. Wobei die Technik das eine, der Inhalt aber das andere sei, so der Erziehungswissenschaftler: „Der eigentliche didaktische Einsatz all dieser Endgeräte und Plattformen kommt erst noch – noch fehlt weitgehend Unterrichtsmaterial für digitalen und Selbstlernunterricht.“ Und, so Köller, auch eine umfassende Fortbildung der Lehrkräfte für Einsatz und Anwendung digitaler Medien müsse unbedingt noch erfolgen. Anwendungen für eine digitale Unterstützung lernschwacher Schüler, die auch eine Rückmeldung an die betreuenden Lehrkräfte liefere, gebe es zwar. Es fehle hier aber noch viel Wissen und auch Zeit für ihren Einsatz.

Weit skeptischer zeigt sich Olaf Köller hingegen beim dritten Punkt der Bildungsförderung: dem Startchancen-Programm. Dafür sei das Volumen von zwei Milliarden Euro im Jahr, die Bund und Länder über zehn Jahre gemeinsam in die Förderung sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler investieren werden, zu klein. „Damit werden wir in Deutschland die Risikogruppe wohl nicht spürbar reduzieren können“, so Köller. „Womöglich haben wir nach dem Programm einige renovierte Toiletten mehr und einige zusätzliche Sozialarbeiter an den Schulen. Für viel mehr wird das Geld aber kaum reichen, befürchte ich.“ Womöglich sei aber wichtiger als das Programm selbst das symbolische Signal, dass die Bildungspolitik die Chancengleichheit doch noch nicht aufgegeben hat.

 

Stand meines Artikels und Interviews: Dezember 2024. Copyright: Christoph Schumann, Hamburg 2025